IN DEN TIEFEN DER ERINNERUNG-TEXTE

Andreas Golinski. In den Tiefen der Erinnerung / Hans Günter Golinski

Karl Ernst Osthaus Vision, im Nachhinein als Hagener Impuls bezeichnet, „die Schönheit wieder zur herrschenden Macht im Leben“ werden zu lassen, beabsichtigte, der Industrieregion Ruhrgebiet eine Identität, einen Genius loci zu erschaffen. Ästhetik sollte in einer mehr gewinn- als sozialorientierten Gesellschaft fehlende Ideale generieren. Der „Genius des Ortes“ steht in enger Verbindung zu dem, jedem Menschen eigenen Personalgenius, und über das Individuum hinaus kann ein mit dem Lebensraum verbundener Gruppengeist entstehen. Kunst in ein sozial extremes Milieu zu holen und allen zugänglich zu machen, potenziert diese Wechselwirkung und nährt die Idee, mittels Ästhetik neue gesellschaftliche Leitbilder zu schaffen. Osthaus erwarb außereuropäische und zeitgenössische Kunst- und Kulturgüter für das Revier nicht, um im Sinne eines klerikalen oder aristokratischen Habitus zu repräsentieren, sondern um ästhetische Bildung zu ermöglichen. Denkt man dieses Modell der Kunstvermittlung weiter, lässt sich Osthaus‘ Vorgehen dahingehend deuten, dass äs­thetische Mündigkeit ein entscheidender Schritt zum politisch mündigen Bürger sein kann.

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Der Hagener Impuls entfaltete seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Ruhrgebiet seine Wirkung, die, sieht man von der katastrophalen Gegenbewegung durch die Nationalsozialisten ab, bis heute andauert – und das trotz oder gerade wegen des Strukturwandels. Als traditionell und aktuell von Migration geprägte Region stellt das Ruhrgebiet eine außerordentliche Kulturlandschaft dar: Neben vielfältigen klassischen und innovativen Kultureinrichtungen findet sich zahlreiche Kunstorte, die durch oder für zeitgenössische Kunst entstanden. Die zwanzig RuhrKunstMuseen repräsentieren das Fundament dieser Szene.

Als mit der Kohlekrise die Industriebrachen als Unorte entstanden, erspürten Künstler deren Genius loci und nutzten deren Energie für den Strukturwandel. Heute gehört die Industriekultur mit ihren Spielorten für avantgardistische Theater-, Musik- und Kunstperformances zur Identität des Ruhrgebiets. Dass sich die Kunst vor Ort auf ihre Entwicklungsgeschichte und Zukunft gerade am Ende der Kohleförderung besinnt, muss hier nicht weiter erläutert werden.

Da das Kunstmuseum Bochum einen Schwerpunkt mit kontextualisierenden Themenausstellungen setzt und dazu Künstler als Kuratoren einlädt, lag es nahe, die historische Zäsur der letzten Zechenschließung des Reviers einem Künstler zur Vorgabe zu machen.

Auf Andreas Golinski durch seine Installation „Excavation Dust“ in der Hezi Cohen Gallery in Tel Aviv aufmerksam geworden, „beauftragten“ wir ihn in ersten Gesprächen, „das Unheimliche, Unbekannte des Erdinneren und die lebensgefährliche Arbeit des Bergbaus mit seinen Mythen und Glaubensvorstellungen“ zu thematisieren: „Er sollte sich damit auseinandersetzen, dass die Welt unter der Erde fantastische Visionen, wissenschaftlichen Forscherdrang und utopische Ideen provoziert. Er solle Bildvorstellungen der unsichtbaren Welt unter der Erde aus der Kunstgeschichte und der Gegenwartskunst, die von frühen Unterweltdarstellungen über mittelalterliche Höllendarstellungen hin zu zeitgenössischen Utopien reichen, berücksichtigen“.

Nach einem Studium in der Schweiz und Aufenthalten in Belgien, Italien und Israel lebt Andreas Golinski heute wieder in seiner Geburtsstadt Essen. Er hat verschiedentlich seinen Lebensraum Ruhrgebiet thematisiert und in beeindruckender Weise künstlerisch transformiert. Zwischen Künstler und Kuratoren entstand ein intensiver Diskurs an dessen Ende sich Golinski aus technischen, vor allem aber inhaltlichen Gründen in weiten Teilen den Vorgaben entzog – das stellt das Risiko aber auch die große Chance dar, einen Künstler mit einer Arbeit vor Ort zu „beauftragen“.

In seiner Affinität zu Architektur greift Andreas Golinski für seine künstlerische Arbeit bedingt die Formensprache des von dem dänischen Architektenduo Jørgen Bo und Wilhelm Wohlert gebauten Museumsgebäudes auf und gestaltet es zu einem Transitort um, der die spezifische Geistigkeit der Region am Ende des Bergbaus erfahrbar werden lässt. Multimedial mit seinen Bildern, Skulpturen und einem Video, in einer sich über zwei Stockwerke entwickelten Rauminstallation aus Stahlteilen und Zementplatten, schafft er eine künstlerische Abstraktion wie auch Konkretion aus Geschichte, Gegenwart und Zukunft dieser Landschaft aus verfüllten Stollen und Gängen. So transloziert er ihren von Verletztheit und Zerrissenheit geprägten Genius loci in einen Kunstraum. Das wiederkehrende Motiv des Risses als lauernde Gefahr des Tagebruchs wird bei Golinski zur optischen Metapher, um eine Sehweise zu provozieren, die die Oberfläche durchdringt – ja durchbricht und ein Darunterliegendes zu erkennen gibt. Mit Architekturfantasien Giovanni Battista Piranesis, künstlerischen Planzeichnungen von Walter Pichler und Alexander Brodsky sowie von ihm als Aufsichten gelesenen Werken von Kasimir Malewitsch, Pierre Soulages und Franceso Lo Savio provoziert er eine Tiefe ergründende Betrachtung.

Golinskis Beschäftigung gilt der ungewissen Frage, wie sieht es unter dem Boden aus, der uns (noch) trägt – oder wie könnte es dort aussehen. Vor diesem Hintergrund schafft er das mehrdeutiges Sinnbild des eingestürzten Untergrundes, das in seiner Ästhetik gleich an das in der Kunsthalle Hamburg befindliche Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich denken lässt. Aus kunsthistorischen Missverständnissen heraus wird dieses Bild aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch als  „Gescheiterte Hoffnung“ betitelt und entsprechend interpretiert.

 

In der Golinski kennzeichnenden ästhetischen Paradoxie der narrativen Abstraktion, die zugleich historisch, faktisch und psychologisierend argumentiert, transformiert er Aspekte seiner Recherchen über aufgegebene wie auch neue, funktionierende unterirdische Industrieanlagen, über technische Zukunftsvisionen und unkalkulierbare Risiken, über Bergschäden an Häusern und Einbrüche ganzer Straßen zu einer multimedialen Rauminstallation.

Der reale, von ihm entwickelte Raum imaginiert den Auf- und Abstieg in ein abstraktes Inneres  und transzendiert zu einem ästhetischen Energiefeldfeld in Gestalt einer Ausgrabungsstätte. Innerhalb dieser mentalen Archäologie stoßen Realität und Idealität, Profanität und Spiritualität hart aufeinander. Man kann die Anwesenheit des janusköpfigen Genius loci spüren. Golinski weckt mit seinem Sinnbild eines Ausgrabungsfeldes ein breites Spektrum an Assoziationen, die von wissenschaftlich historischem Interesse bis zur Faszination für nicht erklärbare Mythen reichen.

Aus den „Tiefen der Erinnerung“ führt der Weg in eine helle Ausstellungshalle mit Pseudo-Grabungsfunden, die man durch die vorgegeben Laufrichtung und ihrem imaginierten Narrativ dem Grabungsfeld entnommen wähnt. Eine durch das Akropolismuseum in Athen inspirierte museale Präsentation auf Sockeln unterstreicht deren Ästhetik und Potenz, zwischen Abstraktion und möglicher Funktion, zwischen kollektiver Zivilisationsgeschichte und individueller Lebensgeschichte zu oszillieren.

Doch alle möglichen Sinnbilder und Assoziation basieren auf abstrakten Gegebenheiten – Golinski schafft eine Position abstrakter Gegenwartsskulptur.

 

Für das Zustandekommen dieser für unser Haus großen und wichtigen Ausstellung gilt es so Vielen Dank zu sagen, dass einzelne namentliche Nennungen immer auch stellvertretend zu lesen sind.

Meine allererster und wichtigster Dank richtet sich jedoch direkt an meinen Namensvetter Andreas Golinski; mit einer stillen, sicheren Beharrlichkeit hat er nach vielen gemeinsamen Diskussionen auf den Vorgaben aufbaut und ein unerwartetes, aber dem historischen Ereignis kongenial gerecht werdendes Konzept entwickelt und zugleich ein autonomes Kunstwerk erschaffen. Die Realisierung hat er mit einem nicht zuletzt auch großen körperlichen Einsatz erreicht, der mir in meiner langjährigen Berufspraxis nicht oft begegnet ist. Ich danke ihm für dieses Engagement, für seine einfühlsame Kommunikation mit allen Beteiligten und für seine Freundschaft.

An zweiter Stelle ist denen Dank zu sagen, die den Rahmen des Geamtprojekts konzipierten und ermöglichten: Besonderen Dank sage ich meinem Kollegen Ferdinand Ullrich sowie meinen übrigen Kollegen und der Kollegin des Kuratoriums und des Vorstandes des Förderverein der RuhrKunstMuseen. In diesem Zusammenhang danke ich dem mit unserem Haus schon lange verbunden Kollegen Thomas Hensolt, der sich für dieses Projekt ganz besonders engagiert hat sowie den übrigen Mitarbeitern des Projektbüros: Christiane Timmerhaus und Hannah Reller.

Bedanken möchte ich mich bei den Förderern: der RAG-Stiftung, der Brost-Stiftung, dem Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes NRW, dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft sowie der Kunststiftung NRW, ohne deren finanzielle Unterstützung ein solches Projekt nicht zu realisieren gewesen wäre.

Persönlich danken möchte ich meinem Kollegen Sepp Hiekisch-Picard, der in bewährter Weise während der Konzeption und Realisation alle Fäden zusammengehalten hat, sowie dem Team des Kunstmuseums Bochum, dass trotz der Ausnahmesituation, die verschiedene Baumaßnahmen im Hause schaffen, mit großem Engagement und gewohnter Professionalität die Umsetzung möglich machten.

Bedanken möchte ich mich bei den Leihgebern, die ihre sensiblen Kunstwerke für dieses außergewöhnliche Ausstellungsvorhaben bereitwillig zur Verfügung gestellt haben: Felix Krämer vom museum kunst palast, Düsseldorf; Markus Heinzelmann vom Museum Morsbroich, Leverkusen; Nadjeda Bartels von der Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung, Berlin; den Galeristen Elisabeth und Klaus Thoman, Innsbruck und Wien.

Gemeinsam mit Andreas Golinski bedanken wir uns besonders bei dem Team von Andreas Golinski:

Hans-Jürgen Kötter , Karl-Heinz Block, Reinhardt Duvenbeck, Kemal Özsoy, Ortwin Karsten.

Für seine engagierte wissenschaftliche Beratung danken wir dem Industriearchäologen  und langjährigem Direktor des Deutschen Bergbau – Museums Bochum Prof. Dr. Rainer Slotta.

Für ihre finanziellen Beitrag danken wir der Bochumer Eisenhütte Heintzmann GmbH & Co.KG namentlich Rüdiger Oostenryck.

 

Für ihre kenntnisreichen und spannenden Textbeiträge, die das Werk von Andreas Golinski in einen gleichermaßen kunsthistorischen wie Gegenwartskunst bezogenen Kontext stellen, danke ich Juliane Duft, Hans-Jürgen Lechtreck und Marcel Schumacher.

Für das gesamte Katalogprojekt und für unseren Einzelband danke ich dem Wienand Verlag, dem zuständigen Team der RuhrKunstMuseen und besonders Spiridon Kapravelos, der bisher alle Publikationen von Andreas Golinski gemeinsam mit dem Künstler konzipiert und realisiert hat

Dank geht an die Verantwortlichen der Öffentlichkeitsarbeit namentlich Stefanie Reichart und Müjde Wormit, denen wieder einmal die Herausforderung einer Außendarstellung der Idee der RuhrKunstMuseen in wirkungsvoller Weise gelang.

Last but not least Dank an alle, die am Begleitprogramm beteiligt sind.

 

Post Scriptum

Obwohl Golinskis Zitate metaphorisch gesetzt sind, haben sie eine erstaunliche Aktualität; die Bergbaukultur des Ruhrgebietes muss nicht erst Jahrhunderte in der Tiefe vergraben sein, um von zukünftigen Archäologen entdeckt zu werden, schon heute sind bedeutsame Industrieareale des 19. Jahrhunderts vergessen und werden zufällig entdeckt. Andreas Rossmann berichtet in der FAZ vom 5. April 2018 unter dem Überschrift Gebuddelt nach den Puddelöfen. In Witten wurden Überreste eines kompletten Stahlwerkes entdeckt – der Pott hat sein Pompeji , dass die Hochbauten der 1855 gegründete Steinhauser Hütte und des 1870 angefügten Bessemer-Werk bekanntlich nach dem 1. Weltkrieg abgetragen wurden, aber schon 1913 die im Boden gebliebenen unterirdischen Anlagen nicht mehr in den Plänen verzeichnet waren. Rossmann beschreibt die vor kurzem zufällig entdeckte, spektakuläre Fundstelle wie folgt: „ Auf dem vier Hektar großen Areal wurden die Baustrukturen der beiden Stahlwerke freigelegt und vermessen: eine große, labyrinthische Ruinenlandschaft mit massiven Bruchstein- und Backsteinmauern, die mehrere Meter in die Tiefe reichen, unterirdischen Kanälen zur Beheizung verschiedener Ofensysteme, Maschinenankern und Schornsteinfundamenten.“ Dieser historisch bedeutsame Fund soll nach gegenwärtigen Sachstand zugunsten eines neuen Gewerbegebiets wieder zugeschüttet werden.

 

 

Canary in a coal mine. Andreas Golinskis fiktive Archäologie der Moderne / Julianne Duft

Unter dem Pflaster liegt der dunkle Wald. Inmitten von Globalisierung und Digitalisierung ist es kaum mehr vorstellbar, dass ein Material den Lebensraum von Menschen so einschneidend prägen kann, wie die Steinkohle das Ruhrgebiet. Seit mehr als 250 Jahren wurde hier Kohle abgebaut. Hunderte Kilometer von Stollen durchziehen den Untergrund, darüber türmen sich künstliche Berge. Industriebauten bilden Landschaften. Häuser reißen heute aufgrund von Absenkungen im Erdreich. Bergarbeiterstreiks im frühen 20. Jahrhundert ebneten der Arbeiterbewegung und damit der der für die Demokratisierung Deutschlands den Weg. Im Jahr 2018 endet mit dem Ende der Subventionierung die Förderung von Kohle im Ruhrgebiet. Schon lange war der Kohlebergbau in Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig und neue Energiegewinnungsmethoden lösen die Kohleverbrennung ab. Diese Entwicklung liest sich wie die Beschreibung einer fernen Zukunft, gleichermaßen scheint die körperliche Arbeit in dunklen Stollen schon lange Vergangenheit.

 

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Eine drei Meter hohe, dunkle Wand versperrt den direkten Weg durch den langen Ausstellungsraum. Fremdartig, wie nicht von dieser Welt ruht der schwarz-metallische, gerasterte Quader mittig im Raum. Metallern hallen Schritte darin. Seine Stahlwand öffnet sich weiter hinten, ein Raum im Raum nimmt die Besucher in sich auf. Dort öffnet sich ein weiterer Raum jenseits des Museums: der Untergrund. Ähnlich der Beginn einer archäologischen Grabung klafft eine Fläche zerbrochener Pflasterplatten vor den Füßen der Besucher, wie eine Wunde im sterilen Museumsraum. Aus ragt eine Metallstruktur hervor, unklar in ihrer Funktion oder überhaupt jemals mit einer versehen. Mit seiner Ausstellung im Kunstmuseum Bochum nimmt Andreas Golinski die erinnernde Rückschau auf die Epoche des Kohleabbaus als Fiktion vorweg. In seiner künstlerischen Praxis ergründet er ausgehend von Orten, Begebenheiten oder Gegenständen die existenziellen Fragen des Menschseins in unserer industrialisierten Gegenwart. Er recherchiert mit Interviews, Tonaufnahmen und Fotografien. Mit seinen Skulpturen und Environments beginnt jedoch die Abstraktion. Teilweise bildet er die untersuchten Orte nach, Details gehen aber dabei verloren – bewusst oder im Prozess des Erinnerns. Neue, oftmals klaustrophobische, absurde Raumsituationen entstehen dabei. Eine auf dem Boden liegende Eisentür scheint in den Untergrund zu führen, ein enger Gang bildet eine Sackgasse. Golinskis Arbeiten könnte man als Richard Serra- oder Donald Judd-Skulpturen auf einem Bad Trip beschreiben. Gerade in ihrer Dramatik, ihrer psychischen Wirkung liegt jedoch eine nüchterne, demütige Einsicht: Wir sind keine kühlen Übermenschen ohne Assoziationen, wenn wir auf einen dunklen Kubus schauen – sondern emotionale Wesen. Wir sind nicht weit entfernt von den Affen, die durch die Urwälder streunten, die heute Kohle geworden sind. Golinski schürft nach Stolpersteinen und Abgründen hinter den Fassaden –  auch im übertragenen Sinn spürt er nach den psychischen Abgründen und Untiefen der Menschen, die die von ihm untersuchten Orte – Nebenschauplätze der Moderne – prägen, beziehungsweise die von ihnen geprägt wurden. Die Installation im Hauptraum erinnert an das Set eines Science Fiction-Films, wie 2001 Odyssee im Weltraum. In dem von Golinski fingiertem Zukunfts-Setting öffnet sich die Vergangenheit romantisiert über die Suche nach Geschichte in Ruinen und Objekten, die verschüttet in den Schichtungen des Bodens liegen. Die Grabungsstätte und der sich anschließende Skulpturenraum erzählen von der Suche nach von Menschenhand geschaffen Objekten und deren Klassifizierung sowie Ästhetisierung durch historische oder archäologische Museen. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Sammeln von Objekten die Agenda von Museen: Sie rekonstruieren, archivieren und fingieren Kulturgeschichte, bis heute oft in teleologischer Darstellungsweise, als Erfolgsgeschichte. Aber wie weit sind wir tatsächlich gekommen? Golinskis Fiktion einer historischen Distanz schafft Räume der Reflexion über die Beziehung von Mensch und physischer Welt, Fragen der Erinnerung und Prozessen der Wertschöpfung und -beimessung.

 

Das Ende der Kohleförderung kommt nicht plötzlich. Es ist der Endpunkt eines jahrzehntelangen Prozesses. Wie niemand anderes haben das Fotografenduo Bernd und Hilla Becher das Zechesterben als Verfallsprozess der Kulturlandschaft Ruhrgebiet künstlerisch festgehalten. In den 1960er Jahren, als Industrieruinen noch keine Denkmäler waren, begannen sie Fördertürme und Hochöfen einheitlich in einer für sie „neutralen“ Bildgrammatik – mit der Plattenkamera, bei bedecktem Himmel, frontalperspektivisch und in Schwarz-Weiß – zu fotografieren. Ihre konzeptuelle Praxis zielt auf eine Objektivierung, erinnert an die Typologien naturwissenschaftlicher Forschungsdisziplinen wie auch August Sanders Menschen-Typen. Sie verweist auf die Serialität der amerikanischen Konzeptkunst wie auf die Geschichte der Fotografie als Mittel der Dokumentation der Wirklichkeit.[1] In den letzten Jahren schenkt man jedoch zunehmend der modernistischen Ruinen-Romantik in ihrem Blick auf die Ingenieurbauten als „anonyme Skulpturen“, wie sie selbst nannten, oder auch als anthropomorphe Charaktere Aufmerksamkeit. Der scheinbar neutrale Stil der Bechers nimmt eine Abstraktion und Ästhetisierung vor, denn die Plattenkamera mit ihrer langen Belichtungszeit friert kein Geschehen ein, sondern schafft historische Bilder.[2] Kein Arbeiter, kein rauchender Schlot ist auf ihnen zu sehen, das Verschwinden ist in ihnen angelegt. Golinski dekontextualisiert und abstrahiert die von ihm untersuchten Architekturen ebenfalls in seinen Refigurationen im Ausstellungsraum. Sein Ziel ist nicht eine objektive Dokumentation, sondern ein neuer subjektiver sinnlicher Zugang zum Alltäglichen. Das distanzierte, gleichermaßen aber auch romantisierende, psychologisierende Verhältnis zu den Ingenieursbauten findet sich jedoch auch in Golinskis Umformungen wieder. Statt einer modernistischen Verklärung zum Funktional-Schönen erfährt die Industriearchitektur in seiner Arbeit eine Betrachtung als unheimlichen Kristallisationspunkt oder als Bild des Unterbewusstseins einer von Effizienz und Geld bestimmten Gesellschaft. Ausgehend von der Konstruktion der sogenannten „Selbstmörderbrücke“, der Ruhrtalautobahnbrücke zwischen Essen und Düsseldorf, in deren Unterbau auch einmal ein Mädchen zwecks einer Geld-Erpressung gefangen gehalten wurde, bespiegelt er beispielsweise die sozialen Verhältnisse in der Region.[3] Golinski zeigt mit Blick auf Hinter- und Zwischenräume eine wenig dargestellte dunkle Seite der Moderne.

Formal erinnern seine Installationen vielmehr an konzeptuelle oder minimale Arbeiten der amerikanischen Zeitgenossen der Bechers – so lässt die quadratische Rasterungen beispielsweise an die Strukturen von Sol Lewitt denken oder an die kühlen, industriellen Stahloberflächen der Skulpturen von Donal Judd. Nie gilt bei Golinskis Arbeiten jedoch „What you see is what you see“ (Frank Stella), nie geht es um die Reduktion auf eine ästhetische Wahrnehmung. Die Ästhetik seiner Skulpturen ist zudem gebrochen, unperfekt, schmutzig. Die Assoziationen beim Betrachter werden durch diese Produktions- und Verfallsspuren und eine bewusste Theatralik in der Präsentation der Arbeiten herbeigeführt. Die Stahloberfläche des Quaders zeigt beispielsweise kreisförmige Spuren ihrer Bearbeitung, sodass das Material auf seinen Produktionskontext und damit die körperliche Arbeit, die ihm zuteil wurde, verweist. Golinskis Arbeiten deuten auf die Verwebungen von Mensch, seiner Umwelt und seiner Psyche. Menschen und ihre kommerziellen Interessen prägen Landschaften und Landschaft und Architektur prägt wiederum den Menschen, der in ihnen lebt. In seinem Werk verdoppelt sich Industrie-Architektur als dysfunktionale Form, die weder Menschen noch Materialien beschützt, sondern zum Objekt, zur Barriere oder sogar zum Gefängnis wird. Mit seiner postminimalen Praxis hinterfragt Golinski die Utopien der Moderne. Einer ihrer dunklen Nebenschauplätze ist auch die Zeche, die nötig war, um die kühnen Stahlskelette moderner Hochhäuser herzustellen und die Glasarchitekturen der Städte zu erleuchten.[4]

 

Kohlrabenschwarz ist auch das berühmte schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch von 1915, das als Vorläufer von Judds, Andres und Lewitts Strukturen gilt. Im Versuch, nichts darzustellen, grenzte es sich vom ikonischen Bild ab und gilt als Anfangspunkt der Abstraktion. Golinski macht abstrakte Zeichnungen von Malewitsch neben anderen Werken der Sammlungen des Museums, wie die dunklen, mit Materialität und Licht spielenden Malereien von Francesco Lo Savio und Pierre Soulages – die ebenfalls nicht repräsentieren wollen – zum Teil seiner Ausstellung im Untergeschoss des Museums. In diesem Raum, der als Prolog zu den oberen Räumen erscheint, werden Malewitschs Zeichnungen statt an die Wand gehängt auf dem Boden liegend – wie Pläne – präsentiert. Die Abstraktion kehrt sich in Golinskis Blick damit wieder um, zurück ins Räumliche. Zur dieser architektonischen Lesart nichtgegenständlicher Kunstwerke trägt ihr räumliches Zusammentreffen mit den theatralischen Architekturphantasien der Veduten von Giovanni Battista Piranesi aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bei. Die Carceri zeigen in dramatisch kontrastreichem Schwarz-Weiß-Radierungen dunkle Kerker in verschlungenen Katakomben.[5] Sie beeinflussten reale Gefängnisbauten wie auch die Filmarchitekturen des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie die Bechers mit ihren Fotografien den Verlust der idealisierten Vergangenheit der Moderne zeigen,[6] romantisieren sie die römische Industrieruine, mit der Piranesi bei Ausgrabungen in Kontakt kam. Melancholisch zeigen sie das römische Reich als verlorenes, gescheitertes Projekt. Die düsteren Landschaftspanoramen des russischen Architekten Alexander Brodsky aus den 1990er Jahren erinnern wiederum an romantische Vorbilder wie die Malereien von Caspar David Friedrich. Das weite Land erscheint in den Zeichnungen als Freiheit wie als Bedrohung. Brodsky wurde als Teil der „Papierarchitekten“ in den 1980er Jahren bekannt. Eingeengt von der vom sowjetischen Staat organisierten, standardisierten Architekturproduktion fand er gemeinsam mit Ilya Utkin ein kreatives Ventil in der Teilnahme an japanischen Konzeptwettbewerben. Es entstanden zahlreiche avantgardistische Entwürfe auf der Grenze zwischen Skulptur und Architektur, bei denen es nicht um Realisierbarkeit ging. Stattdessen stand die Erzeugung von Zuständen und Stimmungen durch eine theatralische, phantasievolle Wiederverwendung von vorgefundenen Materialien mit Geschichte im Vordergrund. In diesem Kontext des Zweifelns an den modernen Ideal der Rationalisierung wirken die suprematistischen, aber auch „gekrakelten“ Formen der Malewitsch-Zeichnungen als Pläne selbst angelegter Labyrinthe ohne Ausweg. Statt transzendent auf eine höhere, geistige Sphäre der Erkenntnis zu verweisen, werden die modernistischen geometrischen Formen in Golinskis Display zum räumlichen Gefängnis. Peter Halleys Prison-Bilder aus den 1980ern gehen ähnlich mit der Abstraktion und ihrem Anspruch um. Die Malereien kippen (vormals abstrakte) Farbfelder wieder ins Figurative, indem sie diese comichaft gekästelten Gefängnisfenstern oder Industriegebäuden ähneln lassen. Halleys wie Golinskis Arbeiten verweisen darauf, dass unsere Lebenswelt in ihrem Design von Abstraktion beherrscht wird – beide Arbeiten wirken lediglich abstrakt, weil, wie Halley einmal erklärte, Abstraktion die operative Kraft in der sozialen Sphäre der realen Welt ist.[7]

Die Minimal Art, die ebenfalls aus den abstrakten Bewegungen der Moderne hervorgeht, legte die Emphase auf die Wahrnehmung von dreidimensionalen Körpern in Raum. Minimalistische Skulpturen wie Judds Kuben wollen buchstäblich, pur als Zusammenspiel von Form und Farbe wahrgenommen werden, auf nichts verweisen, keine Assoziationen wecken. Michael Fried sieht als ihr größter Kritiker diesen Anspruch jedoch nicht erfüllt: Am Beispiel von Tony Smiths The Black Box beschreibt er eine „augenscheinliche Hohlheit der meisten literalistischen Werke – ihre Eigenschaft, ein Innen zu haben.“[8] Sie verleihe ihnen anthropomorphe Züge und etwas Unheimliches, da unklar bleibt, was sich in ihnen verbirgt. Mit diesem von Fried kritisiertem Doppelcharakter zwischen Buchstäblichkeit und zeichenhafter Bedeutung arbeitet Golinski für die psychische Wirkung seiner Skulpturen. Sein metallener Quader beispielsweise ist eine architektonische Hülle, dessen vorerst verborgenes Inneres begangen werden soll. Man kann dabei auch an die unterirdischen Städte und die mit „Lehmkopf“ oder „Schädeldecke (wie ein Gebäude)“ betitelten Architekturentwürfe von dem österreichischem Bildhauer, Zeichner und Architekten Walter Pichler aus dem Untergeschoss denken. Pichler spielt das Anthropomorphe und Unheimliche von dem architektonischen Innen und Außen konkret aus, von den 1960ern bis in die 2000er Jahre. Der Zweifel an der Möglichkeit von schonungslos anti-figurativer Reflexion über Ordnung und Geist anhand von Skulptur erhält bei Golinski Raum. Das Körperliche, die Spannung zwischen Innen und Außen, Davor und Dahinter – das fassadenhaft Unheimliche von modernen Oberflächen offenbart sich in seinen Installationen. Diese geben sich offen als inszeniert und wie theatralisch adressiert an den Betrachter zu erkennen. Mit der Auseinandersetzung mit dem Inneren von Skulptur gibt Golinski zudem der zeitlichen Dimension Raum, die Georges Didi-Huberman und Juliane Rebentisch ebenfalls am Beispiel von Tony Smiths Kuben beschreiben.[9] Sie sehen in ihnen „sowohl die Vergangenheit evoziert als auch die Zukunft antizipiert. Das ,geheime Innenleben‘ des Objekts könnte Vergangenes gespeichert haben – wie eine Art Zeitkapsel – während es zugleich durch seine simple Formgebung auf seine möglichen zukünftigen Rollen vorbereitet zu sein scheint.“[10] Die zeitliche Stabilität des Objekts weicht, laut Didi-Huberman, einer „Kunst der Erinnerung“, die den Aspekt des Verlusts von Vergangenem berührt.[11] Golinskis postminimale Installationen zeigen die Schwierigkeit, philosophisch-geistige Reflexion von physischer Erfahrung und dem körperlichen Gefangensein an einem Ort, zu einer gewissen Zeit zu trennen.

Carl Andre sieht eine Entwicklung der „Skulptur als Form, Skulptur als Struktur und Skulptur als Ort.“[12] Mit seinen Bodenarbeiten würde er Constantin Brâncușis Endlose Säule auf den Boden legen.[13] In ähnlicher Weise erinnern die Wände von Golinskis Raum an Andres typische Stahlplatten – nur vom Boden weggeklappt, das Erdreich unter Ihnen sichtbar machend. Nicht nur der enge Bezug auf den Ausstellungsraum und die Partizipation des Besuchers, sondern auch eine Ortsspezifik im Sinn von konzeptuellen, sozioökonomischen Bezügen der Arbeiten zu ihrer Umgebung rücken Golinskis Arbeiten in eine Nähe zu Andres. Ähnlich wie Andre wählt er mit Stahl auch ein für die Region charakteristisches Material, dessen Geschichte eng mit der Kohleförderung verbunden ist. „Menschengemachtes Material mit seiner eigenen Geschichtsaufzeichnung“ interessiere Andre, womit Enno Develing auch die Dimension der Zeit in seiner Arbeit anklingen lässt.[14] Während Andre aber beispielsweise Holzstücke oder Stahlnägel ohne Umformung in den Kunstraum holt, fingiert Golinski eine solche Praxis mit seiner zweiten großen Rauminstallation. In dieser tritt der Besucher zwischen dutzende Skulpturen aus deformierten Rohren, Metallteilen und Holzstücken, die wie Ausgrabungsfunde oder auch Objet Trouvés – gefundene Objekte – aus einer ehemaligen Zeche wirken. Auf Sockeln präsentiert werden diese zu modernistischen Skulpturen. Der Wegfall des Sockels in der Nachkriegskunst war für Richard Serra die bedeutendste Zäsur in der Geschichte der Skulptur.[15] Für ihn bedeutet er den Wechsel vom Erinnerungsraum des Monuments zum Verhaltensraum des Betrachters. Mit dem Einsatz von Sockeln für die „Ausgrabungsstücke“ betont Golinski daher die Inszenierung innerhalb von musealer Erinnerungskultur, beziehungsweise das hierarchische Verhältnis von Betrachter zum Kunstobjekt. Im Kontrast zu der minimalen Formsprache im vorigen Raum wirken die Skulpturen selbst fast archaisch. Hal Foster zufolge muss eine (kunst)handwerkliche, individualistische Fertigung in Zeiten der technologischen, kollektiven industriellen Produktion immer archaisch wirken.[16] Skulptur kann daher für Benjamin Buchloh in einer Industriegesellschaft nur noch Readymade oder architektonische Intervention sein.[17] Golinskis Skulpturen sind nur scheinbar Readymades, denn er fertigt sie eigens für die Ausstellung. Sie spielen mit den unterschiedlichen historischen Vorstellungen von Skulptur – von Constantin Brancusi und Marcel Duchamp bis zu Carl Andre und den Skulpturen aus „wertlosen“ Materialien von Jannis Kounellis oder auch Isa Genzken. Handelt es sich bei Ihnen doch um Fundstücke? Sind sie als Readymades oder als Artefakte zu lesen? Was hat Golinski an ihnen verändert, wie fand er sie vor? Liegt ihr Wert im Material, in der künstlerischen Form oder dem geschichtlichen Kontext, in einem möglichen Artefakt-Charakter? Die Skulpturen werfen so auch im Museumsraum selbstreflexiv Fragen nach dem Sammeln und Ausstellen in Museen und dem Kontext hinter den Museumsmauern auf. Die Institutionen im Ruhrgebiet gründen sich nicht selten auf dem bürgerlichem Wohlstand durch die der Kohleförderung, sie profitieren vom Reichtum des Bodens, der Energie im Material. Sie entscheiden mit ihrer Sammlungspraxis über kulturellen Wert, während sie sind selbst in größere ökonomische Strukturen eingebunden sind. Insofern schließt sich bildlich ein Kreislauf mit der Grube, die Golinski geöffnet hat. Seine Ausstellung weist im Ganzen konkret räumlich wie ideell über den starren Museumsraum hinaus – in eine Welt, die sich in ständiger Bewegung und Transformation in Richtung weiterer Abstraktion befindet. Achten Sie auf das Vogelgezwitscher und Risse.

[1] Aufgrund dieses selbsterklärten Programms wurde die Arbeit der Bechers als Gegenbewegung zu der subjektiven und romantisierenden Fotografie der Nachkriegszeit berühmt. Vgl. Blake Stimson: The Photographic Comportment of Bernd and Hilla Becher, in: Tate Papers No. 1, Spring 2004.
[2] Vgl. Lothar Romain: Über Bernd und Hilla Becher, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 7, München 1989, S. 10f.
[3] S. Golinskis Arbeit in der Sammlung des Folkwang Museums in Essen: o.T. (Ruhrtal – So viele Leute springen, immer…), 2007–2017 und das dazugehörige Künstlerbuch: Andreas Golinski: So viele Leute springen, immer…, Zug 2012.
[4] Auch hier lässt sich an Settings wie aus dem expressionistischem Science Fiction-Filmklassiker Metropolis denken, in dem eine prächtige Stadt für die Elite durch tausende von schuftenden Arbeitern im Untergrund gespeist wird.
[5] Die Ausstellung zeigt die Veduten in der deutlich dunkleren, vom Verleger bewusst dramatisierteren Version der zweiten Auflage von 1761, deren Verbreitung ihre dystopische Lesart stark beeinflusste.
[6] S. Stimson 2004: „Unlike their artist-cum-engineer-cum-worker predecessors, however, the Bechers’ sensibility relies on melancholy rather than innovation or allegiance to make its point: tied to the loss of an idealised past, their work gains its emotional power, its expressive force as art, from the extent to which it conveys that sense of loss to the beholder. Their photographs present us with a transformed image of the avant-garde ambitions of the 1920s and 1930s: in their view, the great industrial structures that served as monuments to the ‘gigantic schemes’ of collective life, monuments to technological, social and political modernisation, have aged and are now empty of all but memory of the ambition they once housed.“
[7] Vgl. Peter Halley: Talking Abstract, in: Art in America, December 1987, S. 171. S. Dazu auch Michel Foucaults Analyse moderner „Disziplinargesellschaften“ ausgehend von Gefängnisarchitekturen: Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt 1993. In Anlehnung an Foucault stellen Peter Halleys „Cells“ moderne Architektur im Allgemeinen dar. Halley im Interview mit Trevor Fairbrother: The Binational: German Art of the Late 80‘s, S. 98.: „The more I thought about alienation, the more I thought of telephones, televisions, electricity, things zipping in and out of isolated spaces, and so I felt I had to depict the support system that these isolated cells had. In the real world, they usually come from the underground, (…). It‘s above versus below ground, visible versus hidden, and maybe even the conscious and the subconcious.“
[8] Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit (1967, aus dem Amerikanischen von Christoph Hollender), in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel 1995, S. 334–374, hier S. 347.
[9] Vgl. Juliane Rebentisch: Tom Burrs Minimalismus, in: Kunstverein Braunschweig (Hrsg.): Tom Burr, Low Slung. AK: Braunschweig, Kunstverein Braunschweig, 2000, S. 44–51., S. 48 und Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes (aus dem Französischen von Markus Sedlaczek), München 1999. S. 105.
[10] Kristina Scepanski: Aspekte der Aneignung im Werk von Tom Burr, Magisterarbeit Universität zu Köln (unveröffentlicht), Köln 2009, S. 34.
[11] Didi-Huberman 1999, S. 105.
[12] Carl Andre im Interview mit Dodie Cust: Andre: Artist of Transportation, in: The Aspen Times, 18.7.1968.
[13] Vgl. David Bourdon; The Razed Sites of Carl Andre, in Artforum, Vol. 5, No. 2, October 1966, S. 15.
[14] Enno Develing: Skulptur als Ort, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel 1995, S. 245–254, S. 251.
[15] Vgl. Hal Foster: The Art-Architecture Complex, New York 2011, S. 143.
[16] S. zu diesem Spannungsverhältnis: Foster 2011, S. 143f.
[17] Vgl. Benjamin H.D. Buchloh: Michael Asher and the Conclusion of Sculpture, in: Chantal Pontbriand (Hrsg.):Performance, Text(e)s & Documents, Montreal 1981, S. 55.

 

 

„Da ist man dann ganz schnell bei der Welt, die man nicht sieht.“ / Andreas Golinski im Gespräch mit Hans-Jürgen Lechtreck

„Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, an dem es an verborgenen Stellen in die Unter­welt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden.“[1]

 

HJL: Als ich vor einigen Monaten in deinem Atelier war, habe ich auf deinem Arbeitstisch einen Grundriss des Kunstmuseums Bochum gesehen, Millimeterpapier, erste Entwürfe und freihändig ausgeführte Skizzen. Das führt mich heute zu meiner ersten Frage: Wie würdest du deine Arbeitsweise mit Blick auf das Verhältnis von Architektur und Skulptur beschreiben?

 

AG: Es geht immer erst einmal darum, dass man eine Idee entwickelt. Meistens basieren die Ideen auf dem Gesehenen oder auf Sachen, die ich gelesen habe oder auf die ich in Büchern, Zeitschriften usw. gestoßen bin. Zunächst spielt sich alles nur im Kopf ab. Dann gibt es erste Zeichnungen, die einfach nur Skizzen sind. Und von da aus entwickelt sich die Geschichte immer mehr, bis hin zu 3-D-Entwürfen auf dem Computer, kleinen Modellen aus Papier und ähnlichen Sachen.

 

HJL: Mir ist aufgefallen, dass du immer wieder bestimmte Materialien verwendest, häufig Eisen und Stahl, aber auch Holz, Bauholz. So wie bei der Arbeit, die sich gerade hier im Atelier befindet und im vergangenen Jahr in Wuppertal ausgestellt war. Sie besteht aus mächtigen Vierkanthölzern, die von Metallbeschlägen zusammengehalten werden und von dir mit Bitumen angestrichen wurden. Wie wichtig sind für dich diese Materialen und die Assoziationen, die darüber bei den Betrachter*innen einstellen?

 

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AG: Das Material ergibt sich eigentlich immer aus der Geschichte heraus, die den Anstoß für die jeweilige Arbeit war; das hängt immer auch mit der Recherche zusammen. Wenn so eine Recherche beginnt, weiß ich ziemlich lange noch gar nicht, welches Material sich daraus für die Umsetzung ergibt.

Oftmals ist die Entscheidung für ein bestimmtes Material dann diesen Geschichten geschuldet, weil das dann meiner Meinung nach für die davon betroffenen Menschen große Geschichten sind, Geschichten, die für sie eine ungeheure Wichtigkeit haben.

Das Material hat dann eine Langlebigkeit, entwickelt eine eigene Geschichte, das Gewicht, die Festigkeit, die Oberflächen usw.

Wie bei dem von dir angesprochenen Beispiel hier um uns herum: Solche Holzbalken tragen natürlich auch das Gebäude, auf die diese Arbeit bezogen ist. Und so gesehen geben sie auch eine Struktur. Manchmal ist der Bezugspunkt aber auch ein Sound, eine Zeitung oder so etwas; das können ganz verschiedene Ansätze sein und hat sich immer weiter so entwickelt. Ganz am Anfang kam auch schon Beton dazu.

 

HJL: Du hast gerade von den Geschichten gesprochen, die auf der inhaltlichen Ebene immer den Ausgangspunkt für deine Arbeiten bilden. Für die dazu gehörigen Recherchen beschäftigst du dich viel mit der Architektur und Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Nun stellst du dieses Jahr in einem Gebäude aus, das zwei wichtige Architekten der Moderne, Jørgen Bo und Vilhelm Wohlert, entworfenen haben, dem Erweiterungsbau des Kunstmuseums Bochum von 1983. Was hat dich daran gereizt, und wie hast du dich diesem Gebäude und deiner Arbeit für dieses Gebäude angenähert.

 

AG: Dieser dunkle Kasten, den man zunächst von außen sieht, der hat mich immer schon fasziniert, wenn ich in Bochum war. Für mich war Bochum eigentlich zunächst vor allem diese Richard Serra-Skulptur am Hauptbahnhof und irgendwann bin ich dann auch zum Museum gekommen … und das fand ich schon beeindruckend! Man sieht die Patina, die Oberflächen, man sieht, wie damals gebaut wurde, diese großen Fenster, obwohl die dann wiederum gar nicht so groß aussehen, im Verhältnis zu den großen Flächen insgesamt.

Ich hatte mich vorher schon mit vielen skandinavischen Architekten beschäftigt, die wichtig waren im 20. Jahrhundert und für viele andere Architekten eine Rolle gespielt haben. Und irgendwann bin ich dann auch auf Bo und Wohlert gestoßen.

Wie das vielleicht öfters im Ruhrgebiet ist, viele Leute wissen gar nicht, was hier an Architektur alles vorhanden ist. Und auf einmal stellst du fest: Diese beide Architekten haben ja auch das Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk und das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm gebaut, beides tolle Gebäude. Und so etwas steht hier sozusagen auch um die Ecke. Zudem hat mich das Bochumer Museum an etwas erinnert. Ich war einmal in Israel in einem Museum, dem Museum of Art in Ein Harod, da gibt es nur Tageslicht, und das Licht kommt von oben. Der Entwurf stammt von einem Bauhaus-Architekten, der heute total vergessen sind, Samuel Bickels. Und ein bisschen erinnerte mich das Museum in Bochum daran.

Du hast dort die unglaublichen 86 Oberlichter. Vor einigen Monaten habe ich in Bochum eine Ausstellung mit Farbfeldmalerei von Rupprecht Geiger gesehen, und da ist mir das dann zum ersten Mal aufgefallen, wie das mit dem Licht von oben tatsächlich funktionieren kann. Auf einmal wirkt das alles. Es war ja nicht die Idee des Malers, aber man merkt, wie die Architektur die Malerei in einem positiven Sinne herausstellen kann. Das hat mich beeindruckt.

 

Diese hohen Räume und das Licht von oben setze ich in meiner Arbeit ein. Und auch die Rampe, über die man nach oben kommt und die man von anderen modernen Museumsbauten kennt, hat eine Qualität, die nicht sehr häufig anzutreffen ist. Die Architektur hat dieses Partikulare. Der Eingangsbereich im Erdgeschoß mit den gefliesten Oberflächen, heute hat man kein Museum mehr mit Fliesen. Das hat alles seinen Charme. Oben, in den Ausstellungsräumen, ist es dann eher so, wie ein Museum üblicherweise gebaut wird. Aber meistens kommst du ja nicht in so etwas Enges hinein, wo du das Gefühl hast, dir fällt die Decke auf den Kopf. Im Museum Folkwang z. B. stellt sich sofort ein anderes Gefühl ein, wenn du das Gebäude betrittst, das hat etwas Tempelähnliches, Sakrales; Museen gelten ja häufig immer noch als die Tempel unsere Zeit.

In Bochum ergibt sich dieser Eindruck von Sakralität tatsächlich erst in der großen Halle im Obergeschoß. Dort hast du einen anderen Zugang, ein anderes Entrée. Der Zugang ist dort auch verhältnismäßig kurz; wenn du über die Rampe gehst, sind es 30-40 Meters. Wenn du dagegen zum Museum Folkwang kommst, ist der Zugang ein anderer: Man steigt zunächst eine große Treppe hoch, dann kommt dort eine großzügige Terrasse, danach das weitläufige Foyer … Das ist ja eher ein endloser Zugang.

 

HJL: Du hast eingangs gesagt, dass oft die Struktur des Gebäudes für dich der Ausgangspunkt für die Materialwahl und die Struktur des Werks ist. Wir haben jetzt über das Kunstmuseum Bochum gesprochen. Es war von Enge und Weite die Rede, und das sind ja immer wieder auch Erfahrungen oder Qualitäten, die in deinen Arbeiten anzutreffen sind. Wie setzt du das, was du an dem Gebäude beobachtet hast, in Bochum ein? Oder besser gesagt: Wie wirst du das einsetzen, denn im Moment du bist ja noch mit den Vorbereitungen beschäftigt?

 

AG: Im Erdgeschoß gibt es zunächst eine Gegenüberstellung. Dort werden eher historische Positionen zusammen mit Arbeiten von mir zu sehen sein. Die zentrale Arbeit ist dann im ersten Obergeschoß, in der großen zweigeteilten Halle, die ca. 50 Meter lang, ca. 9 Meter breit und 7 Meter hoch ist. Dort wird mit dem Entree und dem Zugang, die ich eben beschrieben habe, gebrochen. Wenn die Besucher*innen in diese riesige Halle hinein kommen, eröffnet sich ihnen ja normalerweise dieser weite Blick. Da hinein bauen wir einen Raum, der ist 30 Meter lang, 6 Meter breit und 3,5 Meter hoch. D. h., dass sich an den Seiten Durchgänge von je 1,5 Meter Breite ergeben. Wenn die Besucher*innen also jetzt hereinkommen, sehen sie zuerst einmal nur diesen Monolith, und sie müssen darum herum gehen. Der steht da und stört, so, wie Kasper König das letztens einmal formuliert hat: „Skulptur ist, was im Weg steht.“ Viele Besucher*innen werden zunächst gar nicht verstehen, dass das schon die Arbeit ist, dass das schon Skulptur, Installation ist. Dieser erste Raum im Obergeschoß, der vordere Teil der großen Halle, wird bis unter die Decke schwarz gestrichen. Das elektrische Licht bleibt aus. Es kommt nur von oben Licht herein, durch die Oberlichter, und aus dem Inneren der Arbeit kommt noch etwas Licht. Man hat also eine ganz andere Atmosphäre, als man gewohnt ist und erwartet hat.

Die Besucher*innen können oder müssen sogar um die Arbeit herum gehen, wenn sie in den dahinter liegenden Teil der Halle wollen oder in das Innere der Arbeit. Auf der Rückseite gibt es einen Eingang, da können die Besucher*innen hinein und einen 6 Meter langen Gang entlang gehen. Der Gang führt in einer Kurve zu einem Platz, einer Art Ausgrabungsstätte, in der Mitte des Museums.

 

HJL: Beabsichtigst du, dass der Monolith sich in Beziehung setzen lässt zum Museumsraum, im Sinne einer Fortschreibung seiner Architektur, seiner Maßstäblichkeit usw.? Oder soll er eher aus dem Maßstab herausfallen und als eine Störung der gewohnten und erwarteten Räumlichkeit funktionieren, die über das Überraschungsmoment hinaus fortbesteht?

 

AG: Der Monolith ist schon in eine Art von Verhältnis zum umgebenden Raum gesetzt. Sein Grundriss ist daran angepasst, seine Höhe, Breite, Länge beziehen sich definitiv auf die Abmessungen der Halle. Es gibt eine Enge, es gibt eine Höhe, die davon abhängen. Ich habe das dieses Mal ganz bewusst modular konzipiert, d. h. man kann die Arbeit in verschiedenen Dimensionen realisieren, immer in Beziehung zu dem jeweiligen Ausstellungsraum.

 

HJL: In der vergangenen Woche hatte ich Gelegenheit, die Werkstatt zu besuchen, wo zur Zeit die von dir angesprochenen Module gefertigt werden. Deren Abmessungen vor Augen und nachdem wir eben über die Lichtdecke im Kunstmuseum Bochum gesprochen haben, die ja auch eine Art von Raster zeigt: Hast du hier ebenfalls ein Maßverhältnis zugrunde gelegt, so wie du es für die Arbeit als Ganzes in Beziehung zum Museumsraum getan hast?

 

AG: Es gibt ein ungefähres, nicht genau abgemessenes Verhältnis: Vier Module ergeben in etwa die Größe eines Oberlichts. Das passt also schon in der Relation.

Wenn man diesen ersten Raum gesehen hat, kann man noch in den hinteren Teil der Halle gehen. Da stehen dann verschiedene kleinere und größere Skulpturen auf Sockeln. Und die Idee ist, das ein kleines bisschen so zu machen, wie das z. B. im Athener Akropolis-Museum von Bernard Tschumi zu sehen ist: Auf den Sockeln stehen dann gewissermaßen die Funde, unsere Funde.

Das ist natürlich alles sehr abstrakt, denn die Skulpturen waren niemals vergraben gewesen und ausgegraben worden. Aber die Ausstellung in Bochum beschäftigt sich ja mit Geschichten, die nicht mehr zu sehen sind – also, die Skulpturen könnten da gefunden worden sein.

 

HJL: Diese Skulpturen im hinteren Teil der Halle sollen auf Sockeln stehend gezeigt werden. Damit haben sie einen festen Platz im Ausstellungsraum. Der Monolith hingegen ist alles andere als eine Skulptur im herkömmlichen Sinne. Der Raum der Skulptur ist hier gar nicht zu trennen von dem Raum des Museums; der Raum des Museums ist gewissermaßen der Raum der Skulptur. Wo beginnt für dich der Raum, den du sozusagen definierst, den du im Museum platzierst? Wann sind die Besucher*innen in dem Raum angekommen, den du für das Kunstmuseum Bochum realisieren wirst?

 

AG: Ich würde sagen, in dem Moment, wo die Besucher*innen die Rampe hinaufgehen, geht das mit der Arbeit los. Die müssen ja erst einmal sozusagen bergauf gehen. Und wenn sie oben angekommen sind, in dem Vorraum zu der großen Halle, wird dort zuerst ein mobiles Wandsystem des Museums zu sehen sein. Wir zeigen aber nicht die Wände, sondern nur die Träger. Das sehen die Besucher*innen ja sonst auch nicht, weil es eben von den Wänden verdeckt ist. Und dann geht es schon los.

Ich finde es interessant, schon den Weg zum Ausstellungsraum, den Weg im Museum zu benutzen. Manchmal muss man da auch gar nichts machen, das liegt dann schon in der Sache, wie sie dort ist. Ich glaube, die Besucher*innen müssen sich das bei mir immer auch ein kleines bisschen erarbeiten.

Für manche Besucher*innen sind 1,5 Meter viel, um da durch zu gehen, für manche ist das wenig. Wenn eine*r dir entgegen kommt, muss musst du dein Verhalten schon verändern. Du hast auf einmal Verantwortung, wo du sonst eigentlich gar keine Verantwortung hast, und viele Leute fühlen sich durch so etwas natürlich gestört.

 

Und dann ist da ja auch noch ein anderer Raum, wo die Leute reingehen können, ein kleiner dunkler Raum, der komplett schwarz ist. Dort ist eine Arbeit zu sehen, die auf einer Bühne steht und sich langsam dreht, also einer Drehbühne, und es gibt einen Sound, der mit der Drehung der Bühne mitgeht, einen „sound of wall“. Und dann sieht man auf der Wand immer einen Riss, der sich dort ergibt. Risse haben wir in der Ausgrabungsstätte natürlich auch, in dem Beton, den wir da zerschlagen.

Der Riss, die Ebene, der Weg die Rampe hinauf, der Gang im Inneren des Monolithen – das ist etwas, das es natürlich in einer Gesellschaft mit Geschichte auch gibt. Dinge, die verloren gehen, Wissen, das verloren geht, Geschichten, die verloren gehen, Geschichten, die schwierige Wege einschlagen.

 

HJL: Weil du die Rampe und die Bühne angesprochen hast, möchte ich kurz auf unser gemeinsames Projekt im Kunstverein Ahaus eingehen.[2] Dort gab es auch eine Rampe und eine Art von Bühne, die du in Beziehung gesetzt hast zu sechs dort dauerhaft aufgestellten Barockskulpturen auf Sockeln. Die Betrachter*innen, die Besucher*innen dieser Installation befanden sich plötzlich auf Augenhöhe mit diesen von dir hinter Bretterverschlägen versteckten Skulpturen, die für sie deshalb gar nicht mehr zu sehen waren. Ist es dir wichtig, den Besucher*innen, den ihnen vertrauten Raum zu entfremden oder ein ihnen vertrautes Raumerlebnis zu relativieren?

 

AG: Ich glaube schon, das ist etwas, was ich sehr interessant finde. Man spricht ja heutzutage oft auch über „Unorte“. Und ich meine, ein sauberer, schöner, großer Ort ist ja normalerweise immer der Museumsraum. Manchmal spreche ich vielleicht in meinen Arbeiten über solche „Unorte“, wo etwas Bestimmtes passiert ist, aber das spielt sich dann in dem sauberen, schönen Museumsraum ab.

Ich glaube, man könnte fast davon sprechen, dass der erste Raum, im vorderen Teil der Halle, eher ein dreckiger Raum ist, ein „Unort“ in dem Sinne, dass es hier nicht wie sonst ist, wenn ein Skulptürchen auf einem Sockel steht oder zehn Bilder an der Wand hängen. Einen solchen erwartbaren Raum hast du erst weiter hinten, wo es aufgeräumter, heller und sauberer ist. Ich würde sagen, das spielt schon eine wichtige Rolle.

Bei dem Projekt, das wir in Ahaus gemacht haben, sind die Besucher*innen eine Rampe hochgegangen, das war so wie der Gang jetzt für Bochum, nur kleiner. Du hast die Skulpturen plötzlich ganz anders wahrgenommen. Die waren da aufgestellt, und auch, wenn sie unter Denkmalschutz standen, hat die niemand mehr angesehen. Und als sie dann eingepackt waren, haben alle Leute gesagt: „Oh, was machen die denn da mit unseren Skulpturen?“.

 

HJL: Ich erinnere mich, das waren zum Teil heftige Reaktionen. Und erstaunlich auch deshalb, weil vorher niemand über diese Skulpturen gesprochen hatte.

 

AG: Gerade Dinge, die sich ändern, können großen Einfluss haben. Das ist genau so, wie wenn du in einem Museum einen Raum schwarz streichst, einen schwarzen Boden verlegst und das Licht ausmachst. Dann sagen die Leute plötzlich „Was ist denn hier los?“ und reagieren stärker darauf, als das normalerweise im Ausstellungsraum der Fall wäre.

 

HJL: Geht es dir dabei um Alltagserfahrungen, die mit Architektur verbunden sind, die Besucher*innen haben und gar nicht mehr reflektieren, weil sie gelernt haben, sich in modernen städtischen Räumen zu bewegen und zu verhalten, weil sie wissen, wo man hingeht, wo man anhält und wo man besser nicht hingeht? Oder anders gefragt: Sind Unterführungen, Treppenhäuser, enge Gänge usw. für dich Fundstücke, atmosphärisches Material für die Arbeiten im Museumsraum? Solche Orte oder „Unorte“ handeln ja häufig von hell/dunkel, laut/leise, sauber/dreckig usw.

 

AG: Absolut. Das sind diese Sachen, vor allem, wenn es möglich ist, mit ihnen zu spielen, also z. B. im Sinne von Licht an, Licht aus. Das kennt man ja selber, wenn man unterwegs ist und die Sonne in einem bestimmten Moment, und auch nur für 10 Minuten, so steht, dass ein schwarzer Schatten in den Raum fällt. Das ist etwas, für das wir, glaube ich, ein wenig das Gefühl verloren haben. Jetzt z. B., während wir uns unterhalten, fällt hier das Licht durch die Fenster und wirft diese Schatten auf den Boden: Das kostet nichts, ist aber großartig – und das ist jetzt wirklich nicht esoterisch gemeint.

Richtige Meister im Umgang mit Licht in der Architektur sind für mich Peter Zumthor oder Tadao Ando. Es gibt natürlich noch viele andere, aber die beiden haben das schon perfektioniert.

 

HJL: Warum ist dieser direkte, nicht idealisierte Bezug zur realen und alltäglichen Architektur für dich so wichtig?

 

AG: Was mich daran fasziniert, ist, dass man jeden Tag, also wenn man in der Stadt wohnt, aber vielleicht auch auf dem Dorf, von Architektur umgeben ist. Du bewegst dich zwischen Gebäuden, schäbigen, schönen, schlechten, billigen und was weiß ich.

Und überall passieren hinter den Mauern und Wänden Geschichten, permanent. Das ist eigentlich unglaublich. Manchmal bekommt man in meinen Arbeiten vielleicht die Geschichte einer Straße oder einer Stadt aufgezeigt, vielleicht auch nur die Geschichte eines Gebäudes oder einer Wohnung darin. Ich finde, das ist das, womit man sich beschäftigen sollte, mit Realität.

 

HJL: Das ist sicherlich auch der große Unterschied zu verschiedenen künstlerischen Positionen der 1960-er bis 1980-er Jahre, deren Formensprache ja manchmal in deinen Arbeiten anklingt; ich denke da etwa an die Minimal Art und den Neo-Konstruktivismus. Für dich kommt es sehr auf die Geschichten dahinter an. Wenn bei dir Formfragen verhandelt werden, dann sind die immer auch verknüpft mit dem, was in diesen Formen aufbewahrt, vielleicht auch darin versteckt ist.

 

AG: Unbedingt. Das genau ist die Idee. Wenn es nur um eine Farbe geht, oder um Kreis und Quadrat, interessiert mich das nicht, das ist nicht mein Ding. Deshalb habe ich das bis heute auch noch nicht gemacht. Wichtiger ist für mich die Geschichte, die man dahinter finden kann, und was man damit macht, bleibt ja jedem selbst überlassen.

Auch wenn es hier und da vielleicht um eine bestimmte Ästhetik geht, und es wenn also von der Ästhetik her Beziehungen gibt, ist das doch ein ganz anderer Ansatz.

 

HJL: Diese Vorstellung, dass hinter den Mauern der Straße, in den Häusern und Wohnungen Geschichten stattfinden, möchte ich mit dem Denkmal-Begriff in Verbindung bringen, der ja für die Skulptur bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Bedeutung hatte. Geht es dir in diesem Sinne um eine Art von Erinnerungskultur oder ist der Denkmal-Begriff für dich vollkommen abwegig?

 

AG: Manchmal geht es mir schon um ein „daran erinnern“, aber anders als bei einem Denkmal. Es geht um ja Sachen, die passiert sind und die die Gesellschaft aus den Augen verloren hat, obwohl sie von Interesse sind. Denen errichtet man ja eher kein Denkmal.

Das, was ich mache, ist eher eine Form von Recherche, eine Form von Soziologie eigentlich, weil es oftmals um die Relevanz einer wahren Geschichte geht, darum, was diese Geschichte die Menschen heute noch angeht. Natürlich stellt sich nicht jede*r da hin und kümmert sich um so eine Geschichte und hat Zeit dafür, das ist mir schon klar. Es ist eher so, dass ich denke, wenn das mich interessiert, interessiert das vielleicht auch noch ein, zwei andere.

Wichtig an dieser Form von Soziologie ist für mich, dass sie sehr viel mehr auf die Gesellschaft als Ganzes als auf das Individuum schaut. Das interessiert mich auch an dieser Untertage-Welt, ihr gesellschaftlicher Kontext. Wir bewegen uns ja in dieser Region durch Straßen, aber was darunter ist, dass da Hunderte von Kilometern lange Tunnelsystemen sind, ist heute vielen gar nicht mehr bewusst. Oder wird es erst wieder, wenn da an irgendeiner Stelle vier oder sechs Wochen lang Beton hineingepumpt wird. Oder wenn irgendwo ein Tagebruch ist und ein Auto oder ein ganzes Haus in irgendwelchen Löchern verschwindet. Da ist man dann ganz schnell bei der Welt, die man nicht sieht.

Das ist ja auch ganz schnell filmisch, wie bei David Lynch: Sachen, die sich unter der Oberfläche befinden. Das ist künstlerisch eine interessante Sache, aber das ist natürlich meiner Meinung nach auch von gesellschaftlichem Interesse.

 

HJL: Wir sprechen von Mauern, die etwas dem Blick entziehen, oder den Blick verstellen, von Schichten und Schichtungen, von Räumen unter einer Oberfläche, die Geschichte sind und Geschichten aufbewahren, die latent immer da sind und plötzlich aufbrechen und hervortreten – du hast Beispiele genannt: Straßen, die absacken, Häuser, die auf einmal aus der Balance geraten und einstürzen.

Unternimmst du in deinen Arbeiten den Versuch, latente Erfahrungen nach vorne, nach oben zu holen, und im Raum deiner Kunst zu einem Ereignis zu machen, damit sie für den Alltag wieder wirksam werden können?

 

AG: Ja, ich denke schon. Das ist ein Ansatz, dieses Vergessene … – „vergessen“ ist natürlich so ein Begriff. Wir leben ja mit so vielen Sachen, die uns eigentlich bewusst sind, die wir aber manchmal ja auch vergessen wollen. Da gibt es natürlich auch so einen Verdrängungsmechanismus.

Und vielleicht bekommen die Leute dadurch einen Anstoß und sagen sich dann, „So habe ich das ja noch nie gesehen“ oder „Das stimmt, das habe ich ja total vergessen“.

Es gibt von mir viele Arbeiten, in denen es um Geschichten geht, die die Leute oftmals vergessen haben oder vergessen wollten. Manchmal ist das ja auch die Öffentlichkeit, die bestimmte Sachen gar nicht erst erzählen oder später erinnern will, weil natürlich auch bestimmte Interessen daran hängen.

 

HJL: Zu Beginn unseres Gesprächs hast du den Ausgangspunkt deiner Arbeit als Recherche beschrieben, als in Teilen auch historische Recherche, und die daraus resultierende Installation als eine Vergegenwärtigung ihrer Ergebnisse. In einigen deiner Arbeiten stellst du sehr explizit Bezüge zu der Bildlichkeit von Ausgrabungsstätten und Tätigkeit von Archäologen her; eine deiner Ausstellungen hast du z. B. „Excavation Dust“ genannt. Was veranlasst dich dazu, mit diesem Bild der Ausgrabung zu arbeiten?

 

AG: Das war damals einfach so. Das ging eigentlich auf Louis I. Kahn zurück. Louis Kahns größter Traum war es immer, wie in Rom auf Ruinen zu bauen – so, wie das Peter Zumthor im Kolumba in Köln gemacht hat: Die Ruinen da zu belassen, wo sie sind, und darüber neu zu bauen. Oder so, wie Tschumi im Akropolis-Museum in Athen: Die Archäologen finden dort plötzlich irgendetwas und er baut darüber und macht die Ausgrabung zu einem Teil der Architektur. Das wollte Louis Kahn auch einmal machen.

 

Ich hatte mich einmal lange mit Louis Kahn beschäftigt und daraus ist dann damals eine Arbeit für eine Ausstellung in Israel entstanden. Bei diesen Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass es Louis Kahns größter Wunsch gewesen war, einmal auf Ruinen zu bauen.

Und darüber bin ich dann auf Piranesi[3] gestoßen, der ja diesen Plan entwickelt hatte, eine von ihm fantasierte vollständige Karte des antiken Rom[4], in der er alle Gebäude usw. eingezeichnet hat und die bekanntesten, die bis in seine Zeit überdauert hatten, als Ruinen. Das fand ich faszinierend, denn das enthielt für mich diese Idee, dass man da irgendwo heruntersteigen musste, zu einer Geschichte, die man sonst nicht mehr sieht. Piranesi hat das auch in seinen Kerker-Bildern[5] so gemacht: Irgendwo muss es doch einen Eingang geben in die Gefängnisse.

So ging das dann los, ich habe mich dann immer wieder mit Räumen beschäftigt, die man gar nicht mehr sieht. Das bedeutete für mich, man hat eine Tür auf dem Boden, kann man da hindurchgehen wie in ein Verlies? Die Tür ist zu, irgendwas ist aber doch dahinter usw. … Türen, die verschlossen sind, wo man aber hinein gehen möchte. Das gibt es ja auch im Museum, Türen, durch die man nicht hindurchgehen kann. Die dadurch ausgelöste Imagination hat mich damals interessiert.

Bei Piranesi ist ja diese Fantasie auch sichtbar, auf zweidimensionale Weise, aber in seinen Bildern gibt es immer auch diese Gänge und Eingänge, in die man nicht hineingehen konnte.

 

HJL: Türen und Eingänge sind ein wiederkehrendes Motive in deinen Installationen. Damit gibst du den Betrachtern eine ganz augenfällige, sofort verständliche Idee von Zugänglichkeit, von „betreten können“ oder „dürfen“. Gleichzeitig störst du eine vorhandene Zugänglichkeit auch oft, indem du Dunkelheit oder Enge erzeugst. Oder du schaffst verschlossene Räume, da ist eine Kiste, aber man kann da nicht hineinschauen, wie zuletzt im Kunstverein Ahaus.

Was für eine Idee von Raum verfolgst du mit diesen Strategien? Geht es dir darum, Raum gewissermaßen zu theoretisieren? Es gibt ja in deinen Arbeiten nicht nur den physikalischen Raum, den realen Raum, sondern auch einen gedachten Raum, einen imaginierten oder Ideenraum.

 

AG: Für mich ging das schon los, als ich noch nicht so viele Möglichkeiten hatte, die Arbeiten dreidimensional herzustellen und auszustellen. Da habe ich tatsächlich schon viel gemacht, was in diese Richtung ging, z. B. schwarze Zeichnungen auf Zeitungs- oder Packpapier. Das sind für mich auch Raum-Arbeiten: Ich habe mir vorgestellt, ich sähe aus der Vogelperspektive, von weit oben, eine riesige Skulptur oder einen Raum im Raum. Solche räumlichen Vorstellungen zeigen die Papierarbeiten, von denen einige ja auch in der Ausstellung zu sehen sein werden. Davon gab es zunächst unzählige Zeichnungen und später auch so etwas wie Pläne, Planzeichnungen.

Räume in Räumen zu bauen fand ich immer schon interessant. Die Idee, sich Räume vorzustellen oder Räume zu sehen, wo keine sind, ist für mich etwas ähnliches wie Geschichten zu entdecken, bei denen ich nicht dabei gewesen bin.

(Das Gespräch fand am Februar 2018 im Essener Atelier des Künstlers statt.)

[1] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 2, Frankfurt/M. 1983, S. 1046.
[2] Andreas Golinski. Homeless Sculpture, Kunstverein ArtHAUS, Ahaus, Münster 2017.
[3] Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778), ital. Künstler und Architekturtheoretiker.
[4] G. B. Piranesi, Pianta di Roma e del Campo Marzo, ca. 1774.
[5] Ders., Carceri d‘invenzione, 1745-50.

 

 

Versuch über den Riss / Marcel Schumacher

Setzungsriss ist ein typisches deutsches Wort. Zusammengesetzt aus Riss und Setzung ist es die Definition eines Phänomens in einem Wort und zugleich schon eine Erklärung, wie es zu dem Phänomen kommen konnte. Erst kommt die Setzung, dann der Riss. Oder: vor dem Riss kam die Setzung. Tatsächlich wird erst der Riss visuell festgestellt, dann wird geschlussfolgert, dass sich das Gebäude gesetzt hat. Vor dem Riss kam die Setzung. Löst der Riss zunächst etwas Beunruhigendes, kommt mit der Setzung wieder die Beruhigung. Das Gebäude hat sich „nur“ gesetzt, damit wird im Deutschen eine solide Ruheposition assoziiert. Könnte der blosse Riss noch den Einsturz des Gebäudes ankündigen, bedeutet die Setzung, dass sich der Grund des Gebäudes durch das Gewicht des Gebäudes etwas verdichtet hat, das Gebäude aber stabil steht. „Setzungsriss“ ist ein Fachbegriff aus der Bauschadensermittlung, der Riss hat aber auch das Potential zur Metapher für das Gebäude, als das man manchmal unsere Gesellschaft bezeichnet.

 

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Der Riss wird gemeinhin als etwas Hässliches aufgefasst, etwas nicht Geplantes, etwas Fehlerhaftes. Tatsächlich sind sie bedrohlich. Das Beunruhigende am Auftreten des Risses ist weniger seine Gegenwart als seine Zukunft. Der Riss könnte weitere Risse bis hin zu der Zerstörung des Gebäudes ankündigen. Das Lesen, das Deuten der Risse erfordert daher einen eigenen Lehrstuhl an Architekturfakultäten, den Lehrstuhl für Bauschadensfragen. Die Gegenwart des Risses verweist auf die Vergangenheit, stellt ein Menetekel der Zukunft dar, beinhaltet aber einen Imperativ für die Gegenwart. Denn der Riss macht etwas sichtbar: Unsichtbare Spannungen zwischen widerstrebenden Kräften.

 

Setzungsrisse können auf ungleiche Gründungen verweisen, auf schwächere und stärkere (Bau)Gründe. Beim Bodenriss kann der Riss sogar eine Spaltung antizipieren. Ist der Riss die Folge eines Erdbebens, zeigt er die gegenläufigen Bewegungen zweier tektonischer Platten an. Der Schwundriss entsteht ebenfalls durch eine Spannung zwischen zwei Kräften: Ein Teil im Kern des Körpers verharrt in seinem alten Zustand, während ein anderer, an der Oberfläche des Körpers, seine Zusammensetzung verändert und schrumpft. Zum Beispiel hat die Oberfläche Wasser an die Umgebung abgegeben, während dies der Kern nicht getan hat. Zwischen Grund und Oberfläche kommt es zu Spannungen, bis die Oberfläche aufreisst und der Grund durch die Risse offen liegt.

 

Immer ist der Riss zuerst eine Linie, die teilt. Der eigentlihe Riss besteht aus zwei Linien. Das unter oder hinter der Oberfläche Liegende wird durch den Raum zwischen diesen Linien sichtbar. Damit ist der Riss primär eine körperhafte Auswirkung eines abgeschlossenen Prozesses, dessen visuelle Wirkung aber sprichwörtlich visionären Charakter hat. Sein Wesen ist zudem ein negatives, das einer negativen Form.

 

Der Riss visualisiert das Gewaltsame der Trennung zwischen der einen Linie, der Risskante und der anderen. Im „klaren“ Schnitt wird ein bewusster, kultureller Akt vollzogen. Schnittkanten sind „sauber“, gerade, kalkuliert, glatt. Das macht sie im traditionellen Sinne schön. Wollte man eine Risskante zeichnerisch simulieren, würde man eine gezackte Linie zeichnen. Der chaotische Verlauf der Linie deutet auf unberechenbare Naturgewalten, was in der europäischen Tradition als „hässlich und unregelmäßig“ aufgefasst wurde. Erstaunlicher Weise ist ein gerader Riss eine absolute Ausnahme. Das Kräfteverhältnis zwischen Haften und Trennen ist in ein und dem selben Material unberechenbar. Wann ein Material reisst, ist in seiner Gesamtheit kalkulierbar. Wie sein Riss aussehen wird, ist hingegen unvorhersehbar. So ist jeder Riss individuell in seiner Gestalt.

 

Die am Computer gezeichnete Simulation eines dreidimensionalen Risses war daher eine Herausforderung für den Künstler Andreas Golinski, und dabei eine sehr zeitgenössische Herausforderung. Denn erst seit wenigen Jahren ist dies überhaupt möglich. Das Chaos der gezackten Kante ist hier allerdings ein gestaltetes, ein nicht vom Computer mit Hilfe eines Algorithmus berechnetes. Der Riss ist daher tatsächlich noch wie eine Zeichnung der Informellen Kunst entstanden. Rissige Farboberflächen findet man häufig in der abstrakten Malerei der 1950er Jahre. Man denke etwa an die Bilder von Emil Schumacher, der zwischen weißen Farbschollen mit schwarzen Risskanten tiefer liegende rote Farbschichten aufblitzen liess. Oder Bilder wie Gerhard Hoehmes „Schwarzer Frühling“ in dessen schwarzer Farbfläche nur noch durch wenige Risse die Farben eines Frühlings hindurchzuschimmern scheinen. Wie der Titel des Bildes andeutet, war diese rissige und vernarbte Malfläche für manche Künstler und einige Interpreten auch Ausdruck der traumatischen Erfahrungen von Diktatur und Krieg. Weniger düster sind die rissigen Oberflächen in so manchen Kunstwerken unserer Zeit. Im Gegensatz zu den glatten, hermetischen Oberflächen in Kunst und Gestaltung der 1990er Jahre findet sich un unserer heutigen visuellen Kultur ein ausgeprägtes Interesse an rissigen Oberflächen. Die Risse, die Durchblicke auf tiefere Schichten verlebendigen die Oberflächen und machen zugleich den Entstehungsprozeß sichtbar.

 

„Zerrissen“ lautet der Endzustand, das Ende des Risses, so wie die Spaltung, ein vollendeter Zustand ist, ohne etwas Wesenhaftes zu haben. Die Kanten sind endgültig getrennt, das Wiederzusammenfügen ist schwer. Hingegen lässt der Riss noch die Möglichkeit eines Schließens offen, einer Rückgängigmachung des Zustandes. Nicht ohne Grund fehlt der Sprache das Substantiv zu Zerrissen. Der Riss hat noch Kanten, Konturen, der „Zerriss“ ist konturlos und bezeichnet nur die Aktion.

 

Der Riss, der bleibt, ist also eigentlich ein „Denkmal“, auch wenn er kein verbreitetes Motiv für Monumente ist. Er wäre auch eher das Motiv eines Mahnmals als ein Siegeszeichens. Dahingegen tendiert unsere Kultur dazu, Risse an Denkmalen unsichtbar werden zu lassen, zu überdecken, zu verfüllen, zu übermalen. Sollte ich für den Erhalt des Risses plädieren? Der Riss macht die Zeit und die Zeitlichkeit sichtbar, auf die Naturkräfte, die an einem Objekt ihren Wettstreit austragen. Verwendet man „den Riss“ metaphorisch, wie „es geht ein Riss durch die Gesellschaft“, wird wohl verständlicher Weise keiner der Akteure den Riss erhalten wollen. Es ist allerdings durchaus nicht klar, ob jeder der Akteure breit ist, die Spannungen abzubauen, die zu dem Riss geführt haben. Eher noch werden Akteure versucht sein, den Riss zu überdecken. Hier wird nun die Sichtbarkeit des Risses relevant: Wird der Riss an der Oberfläche unsichtbar gemacht, werden die unterschwelligen Spannungen vergessen und der Konflikt sich überraschend entladen. Solang der Riss sichtbar ist, beunruhigt er und fordert er zur Behebung der Spannungen auf. Oder wie Joseph Beuys einmal auf eine Postkarte schrieb: „Wer nicht denken will fliegt raus.“