HETEROTOPOS-KUNSTVEREIN RUHR
Heterotopos.
Über Andreas Golinskis Rauminstallation
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seiner Studie Histoire de la Folie 1961 die Wechselbeziehungen der Vernunft zu ihrem Gegenspieler, der Unvernunft und dem Wahnsinn, untersucht und nach einem abgebrochenen Dialog gefragt. Der Monolog der Vernunft über den Wahnsinn gründete auf dessen Schweigen, auf seiner Ausgrenzung, einem Etablieren von Orten an den Rändern der Gesellschaft.
Wie wird dort Wirklichkeit erfahren? Gibt es eine Sprache, die das Schweigen unterbricht und einen Dialog eröffnet? Diese Überlegungen waren Ausgangspunkt für Andreas Golinskis Rauminstallation Heterotopos. Die Lektüre des 1986 publizierten, autofiktionalen Tagebuchs der italienischen Schriftstellerin Alda Merini (1931-2009) L‘altra verità. Diario di una diversa gab den Anstoß für weitere Recherchen des Künstlers, auch über die Autorin. Die in Italien und von Pier Paolo Pasolini sehr geschätzte, von der Académie Française für den Nobelpreis vorgeschlagene Lyrikerin verbrachte viele Jahre in psychiatrischen Anstalten. 1965 von ihrem Ehemann eingeliefert, wurde sie bis 1978, dem Jahr der Öffnung der geschlossenen Psychiatrie in Italien, zum Objekt der Institution und der in dieser Zeit katastrophalen Behandlungsweisen. Erst in den Jahren nach ihren Aufenthalten hat Alda Merini ihre Zeit in den Anstalten rekonstruiert und nach einer Sprache für ihr leidvolles Erleben in den geschlossenen ‚anderen Räumen‘ der Gesellschaft gesucht.
Auch die Kunst lebt von der Existenz besonderer, vom Alltag abgegrenzter Räume, einer Trennung zwischen einer ‚alltäglichen Wahrnehmung‘ und einer in ausgewählten Räumen ermöglichten ‚ästhetischen Erfahrung‘. Auch wenn diese Trennung bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert hinterfragt wurde, so wirkt sie nach. Im ‚White Cube‘ erscheinen die ausgestellten Objekte als Kunst, die mit dem Alltag verbundene Wirklichkeit scheint außen vor. Was geschieht nun im Ausstellungsraum, wenn sich hier, an ein und demselben Ort, Wirklichkeitspartikel aus ganz unterschiedlichen, sonst streng voneinander abgegrenzten gesellschaftlichen Räumen berühren und sich so verschiedene Wahrnehmungsweisen durchmischen? Dieser Versuchsanordnung geht Andreas Golinski in Heterotopos nach. Von dem autofiktionalen Text Alda Merinis inspiriert, läßt er eine weibliche Stimme sprechen. Wie die Erzählerin Merinis berichtet sie von ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Internierte. Ihre Stimme wird von Geräuschen und Tönen begleitet, die Assoziationen an die erwähnten Orte evozieren und den Ausstellungsraum unheimlich aufladen.
Akustikschaum an den Wänden ermöglicht es, die Wahrnehmung vor allem auf das Hören hin auszurichten. Zugleich erscheint der Ausstellungsraum als ‚White Cube‘, in dem sich die Besucher*innen frei bewegen können. Sie können in die Rauminstallation eintauchen und zeitgleich wissen, dass sie sich in einem Kunstraum befinden. Für einen selbst gewählten Zeitraum können sie sich auf die Überlappung der ganz unterschiedlichen Räume und Zeiten einlassen und das damit verbundene Zusammenspiel unterschiedlicher Eindrücke erleben, Überblendungen von Innen und Außen, Vergangenheit und Gegenwart. Sie können dem Sound, der weiblichen Stimme, den Klängen und den realen Geräuschen im Umfeld, ihrer Wahrnehmung und ihren Vorstellungsbildern folgen und sich ihrer Anwesenheit im Ausstellungsraum vergewissern. An minimalistische Kuben erinnernde, die Besucher*innen und das Umfeld gebrochen spiegelnde Skulpturen machen ihre Bewegungen im Raum anschaulich. Im Spiegelbild werden nicht nur die Anwesenden, sondern auch das städtische Umfeld sichtbar, das durch ein Schaufenster in den Raum eindringt. Innen und außen sind nicht nur zwei Seiten sich berührender Räume. Wie die Installation und die mit ihr ermöglichten Erfahrungen zeigt, werden Durchmischungen, Überblendungen von unterschiedlichen Zeiten und in differenten Räumen ermöglichte Wahrnehmungen und deren Auslegungen produktiv. Alda Merini versuchte die erlebte Enge und die Begrenzungen, die ihr die patriarchalische, von der katholischen Kirche bestimmte Gesellschaft in Italien auferlegte, literarisch zu transzendieren, Freiräume zu ermöglichen. Der Ausstellungsraum als Heterotopos knüpft dort an. Er öffnet einen hybriden Raum. Darin liegt das Potenzial der Arbeit.
Friederike Wappler