BAUKUNSTARCHIV NRW-BOHRUNGEN/DRILLINGS

Was Gebäude wissen: Andreas Golinskis Bohrungen

Philip Ursprung

Gibt es ein Wissen, das spezifisch für Gebäude ist, ein „Gebäudewissen“, sozusagen? Mit „Gebäudewissen“ meine ich nicht das Wissen über Gebäude. Ich verstehe darunter ein Wissen, das in der Materialität und Struktur eines Gebäudes verkörpert ist. Also ein Wissen, das sich in den Oberflächen der Fassaden, den Glasscheiben der Fenster, den Treppenstufen und Türblättern, in seiner Planung, seiner Finanzierung, seinem Bau oder Umbau, seiner Nutzung, seiner Reparatur, seinem Abriss oder seiner Zerstörung zeigt. Es wäre eine Art von Wissen, das sich nicht auf Konzepte und Sprache beschränkt, die auf das Gebäude angewandt werden, sondern ein Wissen, das durch das Gebäude selbst vermittelt wird.

Andreas Golinskis Ausstellung Bohrungen / Drillings im Gebäude des Baukunstarchivs Nordrhein-Westfalen bietet Zugänge zu einem solchen Gebäudewissen. Die Ausstellung bringt die Wände in den Kellerräumen zum Sprechen. Wer sich zwischen den normalerweise für Besuchende nicht zugänglichen Heizungsrohren, Wasserleitungen und Kabelsträngen der unterirdischen Räume bewegt, hört plötzlich die Stimme der legendären Gründungsdirektorin Leonie Reygers. Dem Weg in die Tiefe des Gebäudes entspricht die Reise in die Vergangenheit. Kontrastierend dazu führt die Ausstellung nach oben, über ein Gerüst bis dicht unter die Glasdecke des Lichthofs. Hier werden einige der Glasscheiben entfernt. Das Licht des Himmels wird ungefiltert sichtbar. Außerdem werden Dokumente zur Geschichte des Hauses in einem temporär errichteten, verdunkelten neuen Innenraum präsentiert. Ergänzt werden sie durch einen „Zeittunnel“. Er setzt die Geschichte des Hauses in Beziehung zur allgemeinen Geschichte. Er demonstriert, dass die Geschichte von Architektur stets mehr ist als „Architekturgeschichte“. 

Das Gebäude fungiert somit nicht als neutraler Hintergrund einer Ausstellung über seine eigene Geschichte. Golinskis Intervention macht es vielmehr selbst zum Exponat. Bohrungen / Drillings ermuntert die Besuchenden, hinzuschauen, hinzuhören, zu tasten, zu riechen, die Sinne zu schärfen. Die Ausstellung regt an, die Perspektive zu wechseln und sich in der Fantasie hineinzuversetzen in die Haut des Gebäudes. Es geht nicht darum, etwas zu behaupten, sondern es sichtbar und erfahrbar zu machen, gemäß einer bewährten Maxime des Erzählens, „Show, don’t tell“.

Natürlich können Gebäude, wie auch Maschinen, nicht tatsächlich, im menschlichen Sinne, denken, sprechen, sehen und wissen. Aber wer hat nicht als Kind erlebt, wie vielleicht ein Türknauf sich in ein freundlich blinzelndes Auge verwandelte? Oder ein Kellerabgang in ein schnaufendes Monster? In der Literatur ist es selbstverständlich, dass Bauten Eigenschaften von Lebewesen haben. Manche richten sich gegen die Menschen – von Edgar Allan Poes Erzählung Die Grube und das Pendel (1843) über Franz Kafkas Roman Das Schloss (1926) bis Bret Easton Ellisʼ Roman Lunar Park (2005). Und auch in der Kunst ist Architektur manchmal animiert. Die Interieurs in Félix Vallottons Holzschnitten oder Edward Hoppers Gemälden treten ebenso in einen imaginären Dialog mit der Bewohnerschaft wie Gordon Matta-Clarks Splitting (1974), Rachel Whitereads Ghost (1990) oder Gregor Schneiders Projekt Haus u r (seit 1985). Und schließlich sind auch in manchen Filmen Bauten Träger von Handlungen. Man denke an Alfred Hitchcocks Psycho (1960), Francis Ford Coppolas The Conversation (1974), Alex Proyasʼ Dark City (1998) oder Christopher Nolans Inception (2010).

Dass Golinskis Ausstellung in Dortmund in einem Archiv stattfindet und nicht in einem traditionell als Ausstellungsort genutztem Gebäude, öffnet neue Zugänge. Die meisten Museen und Galerien blenden den Lauf der Zeit aus. Sie schreiben ein Ausstellungsdispositiv in einer Art von ewiger Gegenwart fest. Die Räume des Baukunstarchivs hingegen sind a priori mit Geschichte durchtränkt. Alles dient dem Sammeln und Studieren von historischen Dokumenten. Die Türen zur Geschichte stehen, wenn man so will, weit offen. Umso leichter fällt es, beim Besuch der Ausstellung Bohrungen / Drillings, sich mit dem Bau zu identifizieren.

Erinnert sich dieses Haus daran, dass es einst zu Höherem bestimmt war? Denkt es manchmal melancholisch zurück an die Blütezeit der Schwerindustrie als es – fast zeitgleich mit der Gründung des Kaiserreichs – als Landesoberbergamt errichtet wurde? War es eine Kränkung oder im Gegenteil eine Auszeichnung, dass es kurze Zeit danach zum Museum für Kunst und Kulturgeschichte umgewidmet wurde? Was hat es seither erlebt? Das Trauma der Bomben im Zweiten Weltkrieg, als das Innere verbrannte, hat es nie ganz verarbeitet. Bereits in den späten 1940er-Jahren legte man wieder Hand an seine Mauern. Nun, um es als Kunstmuseum zu nutzen. Man nannte es neu „Am Ostwall“. Vielleicht, damit man sich vorstellen konnte, dass hier vor der Zerstörung eine Altstadt gestanden hatte. Abermals fiel seine Eröffnung zeitgleich zusammen mit der Gründung eines Staates, diesmal der Bundesrepublik Deutschland. Ein großer Teil der Mauern und der Lichthof blieben zwar erhalten, aber die unerträglichen Erinnerungen, die Scham und die Schuldgefühle wurden mit dicken Schichten von weißer Farbe übertüncht und hellem Kunstlicht überstrahlt. Innen und außen, Interieur und Fassade passten, das wird bei der Bewegung in und um das Gebäude deutlich, nie mehr ganz zusammen.

Zur Zeit des Wirtschaftswunders machte das Haus alles richtig. Beim Weg über das Gerüst hin zur Glasdecke des Lichthofs ist diese Leichtigkeit und Aufbruchstimmung noch spürbar. Es wurde zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren zu einer der ersten Adressen für aktuelle Kunst in der Bundesrepublik. Schließlich war die Region jetzt neben New York das Zentrum der Kunstwelt. Die Protagonisten von Zero, Fluxus und Happenings gaben sich die Klinke in die Hand. Sogar Kinder durften sich künstlerisch verwirklichen. Ein Jahrhundert nach der Errichtung als Verwaltungsgebäude schien es als Haus für die Kultur auf dem Höhepunkt seiner Wirkung zu stehen.

Aber gegen das Ende des 20. Jahrhunderts begannen seine Kräfte zu schwinden. So wie das ganze Ruhrgebiet machte ihm der Niedergang der Fabriken und Bergwerke und der Abzug des Geldes zu schaffen. Im Wettbewerb der Städte um Aufmerksamkeit und Prestige war es nicht neu genug und zu kostspielig. Die Sammlung zog aus und bezog ein anderes Gebäude, im Dortmunder U. Den alten Namen nahm sie gleich mit, das neue Gebäude heißt jetzt „Museum Ostwall“ oder, sehr cool, „MO“. Verlassen und sitzen gelassen, eine nutzlose Hülle! Aber es sollte noch schlimmer kommen. Mit dem Auszug der Sammlung stand das Gebäude leer. Sein Abbruch wurde diskutiert. Wie sollte das Haus dies verkraften?

Diese und andere Fragen wirft die Ausstellung Bohrungen / Drillings von Golinski auf. Sie schließt an eine Reihe von Ausstellungen an, die die Zusammenhänge zwischen dem Gebauten und der Geschichte, den Materialien und der Erinnerung ins Licht rücken. Von Notturno anlässlich der 11. Schweizer Skulpturenausstellung Utopics in Biel (2009), Asche im Museum Folkwang (2014), Excavation Dust in der Hezi Cohen Gallery in Tel Aviv (2015) bis zu In den Tiefen der Erinnerung im Kunstmuseum Bochum (2018) zieht sich diese künstlerische Auseinandersetzung wie ein roter Faden durch Golinskis Œuvre. Gemeinsamer Nenner dieser Ausstellungen sind eine Atmosphäre des Halbdunkels und der Schatten, die Dominanz von Grau- und Schwarztönen sowie die Materialien Stahl und Ziegelstein. Es ist naheliegend, darin ein Echo der Industrielandschaften des Ruhrgebiets zu sehen, wo Golinski aufwuchs und lebt. Aber sein künstlerisches Vorgehen ist nicht auf die Region begrenzt. Es rührt vielmehr an die Fragen der Latenz, also des halb Vergessenen und die Spannung zwischen Verdrängen und Erinnerung.

Das Gebäude am Ostwall wurde bekanntlich nicht abgerissen. Mit dem Einzug des Baukunstarchivs hat sich sein Schicksal wieder zum Besseren gewandt. Ausgerechnet der Blick zurück ermöglicht die neue Perspektive in die Zukunft. Dass Golinskis Ausstellung darin stattfinden kann, ist ein Glücksfall. Archive haben es nicht leicht, aber in einem Kontext der selektiven Erinnerung, der Kontrolle des Zugangs zum Gedächtnis und der Manipulation von Fakten sind sie unverzichtbar. Golinskis Ausstellung Bohrungen / Drillings führt uns vor Augen, dass das Gebäude am Ostwall das weiß.