KUNSTMUSEUM BOCHUM – IN DEN TIEFEN DER ERINNERUNG

Canary in a coal mine. Andreas Golinskis fiktive Archäologie der Moderne / Julianne Duft

Unter dem Pflaster liegt der dunkle Wald. Inmitten von Globalisierung und Digitalisierung ist es kaum mehr vorstellbar, dass ein Material den Lebensraum von Menschen so einschneidend prägen kann, wie die Steinkohle das Ruhrgebiet. Seit mehr als 250 Jahren wurde hier Kohle abgebaut. Hunderte Kilometer von Stollen durchziehen den Untergrund, darüber türmen sich künstliche Berge. Industriebauten bilden Landschaften. Häuser reißen heute aufgrund von Absenkungen im Erdreich. Bergarbeiterstreiks im frühen 20. Jahrhundert ebneten der Arbeiterbewegung und damit der der für die Demokratisierung Deutschlands den Weg. Im Jahr 2018 endet mit dem Ende der Subventionierung die Förderung von Kohle im Ruhrgebiet. Schon lange war der Kohlebergbau in Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig und neue Energiegewinnungsmethoden lösen die Kohleverbrennung ab. Diese Entwicklung liest sich wie die Beschreibung einer fernen Zukunft, gleichermaßen scheint die körperliche Arbeit in dunklen Stollen schon lange Vergangenheit.

Eine drei Meter hohe, dunkle Wand versperrt den direkten Weg durch den langen Ausstellungsraum. Fremdartig, wie nicht von dieser Welt ruht der schwarz-metallische, gerasterte Quader mittig im Raum. Metallern hallen Schritte darin. Seine Stahlwand öffnet sich weiter hinten, ein Raum im Raum nimmt die Besucher in sich auf. Dort öffnet sich ein weiterer Raum jenseits des Museums: der Untergrund. Ähnlich der Beginn einer archäologischen Grabung klafft eine Fläche zerbrochener Pflasterplatten vor den Füßen der Besucher, wie eine Wunde im sterilen Museumsraum. Aus ragt eine Metallstruktur hervor, unklar in ihrer Funktion oder überhaupt jemals mit einer versehen. Mit seiner Ausstellung im Kunstmuseum Bochum nimmt Andreas Golinski die erinnernde Rückschau auf die Epoche des Kohleabbaus als Fiktion vorweg. In seiner künstlerischen Praxis ergründet er ausgehend von Orten, Begebenheiten oder Gegenständen die existenziellen Fragen des Menschseins in unserer industrialisierten Gegenwart. Er recherchiert mit Interviews, Tonaufnahmen und Fotografien. Mit seinen Skulpturen und Environments beginnt jedoch die Abstraktion. Teilweise bildet er die untersuchten Orte nach, Details gehen aber dabei verloren – bewusst oder im Prozess des Erinnerns. Neue, oftmals klaustrophobische, absurde Raumsituationen entstehen dabei. Eine auf dem Boden liegende Eisentür scheint in den Untergrund zu führen, ein enger Gang bildet eine Sackgasse. Golinskis Arbeiten könnte man als Richard Serra- oder Donald Judd-Skulpturen auf einem Bad Trip beschreiben. Gerade in ihrer Dramatik, ihrer psychischen Wirkung liegt jedoch eine nüchterne, demütige Einsicht: Wir sind keine kühlen Übermenschen ohne Assoziationen, wenn wir auf einen dunklen Kubus schauen – sondern emotionale Wesen. Wir sind nicht weit entfernt von den Affen, die durch die Urwälder streunten, die heute Kohle geworden sind. Golinski schürft nach Stolpersteinen und Abgründen hinter den Fassaden –  auch im übertragenen Sinn spürt er nach den psychischen Abgründen und Untiefen der Menschen, die die von ihm untersuchten Orte – Nebenschauplätze der Moderne – prägen, beziehungsweise die von ihnen geprägt wurden. Die Installation im Hauptraum erinnert an das Set eines Science Fiction-Films, wie 2001 Odyssee im Weltraum. In dem von Golinski fingiertem Zukunfts-Setting öffnet sich die Vergangenheit romantisiert über die Suche nach Geschichte in Ruinen und Objekten, die verschüttet in den Schichtungen des Bodens liegen. Die Grabungsstätte und der sich anschließende Skulpturenraum erzählen von der Suche nach von Menschenhand geschaffen Objekten und deren Klassifizierung sowie Ästhetisierung durch historische oder archäologische Museen. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Sammeln von Objekten die Agenda von Museen: Sie rekonstruieren, archivieren und fingieren Kulturgeschichte, bis heute oft in teleologischer Darstellungsweise, als Erfolgsgeschichte. Aber wie weit sind wir tatsächlich gekommen? Golinskis Fiktion einer historischen Distanz schafft Räume der Reflexion über die Beziehung von Mensch und physischer Welt, Fragen der Erinnerung und Prozessen der Wertschöpfung und -beimessung.

 

Das Ende der Kohleförderung kommt nicht plötzlich. Es ist der Endpunkt eines jahrzehntelangen Prozesses. Wie niemand anderes haben das Fotografenduo Bernd und Hilla Becher das Zechesterben als Verfallsprozess der Kulturlandschaft Ruhrgebiet künstlerisch festgehalten. In den 1960er Jahren, als Industrieruinen noch keine Denkmäler waren, begannen sie Fördertürme und Hochöfen einheitlich in einer für sie „neutralen“ Bildgrammatik – mit der Plattenkamera, bei bedecktem Himmel, frontalperspektivisch und in Schwarz-Weiß – zu fotografieren. Ihre konzeptuelle Praxis zielt auf eine Objektivierung, erinnert an die Typologien naturwissenschaftlicher Forschungsdisziplinen wie auch August Sanders Menschen-Typen. Sie verweist auf die Serialität der amerikanischen Konzeptkunst wie auf die Geschichte der Fotografie als Mittel der Dokumentation der Wirklichkeit.[1] In den letzten Jahren schenkt man jedoch zunehmend der modernistischen Ruinen-Romantik in ihrem Blick auf die Ingenieurbauten als „anonyme Skulpturen“, wie sie selbst nannten, oder auch als anthropomorphe Charaktere Aufmerksamkeit. Der scheinbar neutrale Stil der Bechers nimmt eine Abstraktion und Ästhetisierung vor, denn die Plattenkamera mit ihrer langen Belichtungszeit friert kein Geschehen ein, sondern schafft historische Bilder.[2] Kein Arbeiter, kein rauchender Schlot ist auf ihnen zu sehen, das Verschwinden ist in ihnen angelegt. Golinski dekontextualisiert und abstrahiert die von ihm untersuchten Architekturen ebenfalls in seinen Refigurationen im Ausstellungsraum. Sein Ziel ist nicht eine objektive Dokumentation, sondern ein neuer subjektiver sinnlicher Zugang zum Alltäglichen. Das distanzierte, gleichermaßen aber auch romantisierende, psychologisierende Verhältnis zu den Ingenieursbauten findet sich jedoch auch in Golinskis Umformungen wieder. Statt einer modernistischen Verklärung zum Funktional-Schönen erfährt die Industriearchitektur in seiner Arbeit eine Betrachtung als unheimlichen Kristallisationspunkt oder als Bild des Unterbewusstseins einer von Effizienz und Geld bestimmten Gesellschaft. Ausgehend von der Konstruktion der sogenannten „Selbstmörderbrücke“, der Ruhrtalautobahnbrücke zwischen Essen und Düsseldorf, in deren Unterbau auch einmal ein Mädchen zwecks einer Geld-Erpressung gefangen gehalten wurde, bespiegelt er beispielsweise die sozialen Verhältnisse in der Region.[3] Golinski zeigt mit Blick auf Hinter- und Zwischenräume eine wenig dargestellte dunkle Seite der Moderne.

Formal erinnern seine Installationen vielmehr an konzeptuelle oder minimale Arbeiten der amerikanischen Zeitgenossen der Bechers – so lässt die quadratische Rasterungen beispielsweise an die Strukturen von Sol Lewitt denken oder an die kühlen, industriellen Stahloberflächen der Skulpturen von Donal Judd. Nie gilt bei Golinskis Arbeiten jedoch „What you see is what you see“ (Frank Stella), nie geht es um die Reduktion auf eine ästhetische Wahrnehmung. Die Ästhetik seiner Skulpturen ist zudem gebrochen, unperfekt, schmutzig. Die Assoziationen beim Betrachter werden durch diese Produktions- und Verfallsspuren und eine bewusste Theatralik in der Präsentation der Arbeiten herbeigeführt. Die Stahloberfläche des Quaders zeigt beispielsweise kreisförmige Spuren ihrer Bearbeitung, sodass das Material auf seinen Produktionskontext und damit die körperliche Arbeit, die ihm zuteil wurde, verweist. Golinskis Arbeiten deuten auf die Verwebungen von Mensch, seiner Umwelt und seiner Psyche. Menschen und ihre kommerziellen Interessen prägen Landschaften und Landschaft und Architektur prägt wiederum den Menschen, der in ihnen lebt. In seinem Werk verdoppelt sich Industrie-Architektur als dysfunktionale Form, die weder Menschen noch Materialien beschützt, sondern zum Objekt, zur Barriere oder sogar zum Gefängnis wird. Mit seiner postminimalen Praxis hinterfragt Golinski die Utopien der Moderne. Einer ihrer dunklen Nebenschauplätze ist auch die Zeche, die nötig war, um die kühnen Stahlskelette moderner Hochhäuser herzustellen und die Glasarchitekturen der Städte zu erleuchten.[4]

 

Kohlrabenschwarz ist auch das berühmte schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch von 1915, das als Vorläufer von Judds, Andres und Lewitts Strukturen gilt. Im Versuch, nichts darzustellen, grenzte es sich vom ikonischen Bild ab und gilt als Anfangspunkt der Abstraktion. Golinski macht abstrakte Zeichnungen von Malewitsch neben anderen Werken der Sammlungen des Museums, wie die dunklen, mit Materialität und Licht spielenden Malereien von Francesco Lo Savio und Pierre Soulages – die ebenfalls nicht repräsentieren wollen – zum Teil seiner Ausstellung im Untergeschoss des Museums. In diesem Raum, der als Prolog zu den oberen Räumen erscheint, werden Malewitschs Zeichnungen statt an die Wand gehängt auf dem Boden liegend – wie Pläne – präsentiert. Die Abstraktion kehrt sich in Golinskis Blick damit wieder um, zurück ins Räumliche. Zur dieser architektonischen Lesart nichtgegenständlicher Kunstwerke trägt ihr räumliches Zusammentreffen mit den theatralischen Architekturphantasien der Veduten von Giovanni Battista Piranesi aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bei. Die Carceri zeigen in dramatisch kontrastreichem Schwarz-Weiß-Radierungen dunkle Kerker in verschlungenen Katakomben.[5] Sie beeinflussten reale Gefängnisbauten wie auch die Filmarchitekturen des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie die Bechers mit ihren Fotografien den Verlust der idealisierten Vergangenheit der Moderne zeigen,[6] romantisieren sie die römische Industrieruine, mit der Piranesi bei Ausgrabungen in Kontakt kam. Melancholisch zeigen sie das römische Reich als verlorenes, gescheitertes Projekt. Die düsteren Landschaftspanoramen des russischen Architekten Alexander Brodsky aus den 1990er Jahren erinnern wiederum an romantische Vorbilder wie die Malereien von Caspar David Friedrich. Das weite Land erscheint in den Zeichnungen als Freiheit wie als Bedrohung. Brodsky wurde als Teil der „Papierarchitekten“ in den 1980er Jahren bekannt. Eingeengt von der vom sowjetischen Staat organisierten, standardisierten Architekturproduktion fand er gemeinsam mit Ilya Utkin ein kreatives Ventil in der Teilnahme an japanischen Konzeptwettbewerben. Es entstanden zahlreiche avantgardistische Entwürfe auf der Grenze zwischen Skulptur und Architektur, bei denen es nicht um Realisierbarkeit ging. Stattdessen stand die Erzeugung von Zuständen und Stimmungen durch eine theatralische, phantasievolle Wiederverwendung von vorgefundenen Materialien mit Geschichte im Vordergrund. In diesem Kontext des Zweifelns an den modernen Ideal der Rationalisierung wirken die suprematistischen, aber auch „gekrakelten“ Formen der Malewitsch-Zeichnungen als Pläne selbst angelegter Labyrinthe ohne Ausweg. Statt transzendent auf eine höhere, geistige Sphäre der Erkenntnis zu verweisen, werden die modernistischen geometrischen Formen in Golinskis Display zum räumlichen Gefängnis. Peter Halleys Prison-Bilder aus den 1980ern gehen ähnlich mit der Abstraktion und ihrem Anspruch um. Die Malereien kippen (vormals abstrakte) Farbfelder wieder ins Figurative, indem sie diese comichaft gekästelten Gefängnisfenstern oder Industriegebäuden ähneln lassen. Halleys wie Golinskis Arbeiten verweisen darauf, dass unsere Lebenswelt in ihrem Design von Abstraktion beherrscht wird – beide Arbeiten wirken lediglich abstrakt, weil, wie Halley einmal erklärte, Abstraktion die operative Kraft in der sozialen Sphäre der realen Welt ist.[7]

Die Minimal Art, die ebenfalls aus den abstrakten Bewegungen der Moderne hervorgeht, legte die Emphase auf die Wahrnehmung von dreidimensionalen Körpern in Raum. Minimalistische Skulpturen wie Judds Kuben wollen buchstäblich, pur als Zusammenspiel von Form und Farbe wahrgenommen werden, auf nichts verweisen, keine Assoziationen wecken. Michael Fried sieht als ihr größter Kritiker diesen Anspruch jedoch nicht erfüllt: Am Beispiel von Tony Smiths The Black Box beschreibt er eine „augenscheinliche Hohlheit der meisten literalistischen Werke – ihre Eigenschaft, ein Innen zu haben.“[8] Sie verleihe ihnen anthropomorphe Züge und etwas Unheimliches, da unklar bleibt, was sich in ihnen verbirgt. Mit diesem von Fried kritisiertem Doppelcharakter zwischen Buchstäblichkeit und zeichenhafter Bedeutung arbeitet Golinski für die psychische Wirkung seiner Skulpturen. Sein metallener Quader beispielsweise ist eine architektonische Hülle, dessen vorerst verborgenes Inneres begangen werden soll. Man kann dabei auch an die unterirdischen Städte und die mit „Lehmkopf“ oder „Schädeldecke (wie ein Gebäude)“ betitelten Architekturentwürfe von dem österreichischem Bildhauer, Zeichner und Architekten Walter Pichler aus dem Untergeschoss denken. Pichler spielt das Anthropomorphe und Unheimliche von dem architektonischen Innen und Außen konkret aus, von den 1960ern bis in die 2000er Jahre. Der Zweifel an der Möglichkeit von schonungslos anti-figurativer Reflexion über Ordnung und Geist anhand von Skulptur erhält bei Golinski Raum. Das Körperliche, die Spannung zwischen Innen und Außen, Davor und Dahinter – das fassadenhaft Unheimliche von modernen Oberflächen offenbart sich in seinen Installationen. Diese geben sich offen als inszeniert und wie theatralisch adressiert an den Betrachter zu erkennen. Mit der Auseinandersetzung mit dem Inneren von Skulptur gibt Golinski zudem der zeitlichen Dimension Raum, die Georges Didi-Huberman und Juliane Rebentisch ebenfalls am Beispiel von Tony Smiths Kuben beschreiben.[9] Sie sehen in ihnen „sowohl die Vergangenheit evoziert als auch die Zukunft antizipiert. Das ,geheime Innenleben‘ des Objekts könnte Vergangenes gespeichert haben – wie eine Art Zeitkapsel – während es zugleich durch seine simple Formgebung auf seine möglichen zukünftigen Rollen vorbereitet zu sein scheint.“[10] Die zeitliche Stabilität des Objekts weicht, laut Didi-Huberman, einer „Kunst der Erinnerung“, die den Aspekt des Verlusts von Vergangenem berührt.[11] Golinskis postminimale Installationen zeigen die Schwierigkeit, philosophisch-geistige Reflexion von physischer Erfahrung und dem körperlichen Gefangensein an einem Ort, zu einer gewissen Zeit zu trennen.

Carl Andre sieht eine Entwicklung der „Skulptur als Form, Skulptur als Struktur und Skulptur als Ort.“[12] Mit seinen Bodenarbeiten würde er Constantin Brâncușis Endlose Säule auf den Boden legen.[13] In ähnlicher Weise erinnern die Wände von Golinskis Raum an Andres typische Stahlplatten – nur vom Boden weggeklappt, das Erdreich unter Ihnen sichtbar machend. Nicht nur der enge Bezug auf den Ausstellungsraum und die Partizipation des Besuchers, sondern auch eine Ortsspezifik im Sinn von konzeptuellen, sozioökonomischen Bezügen der Arbeiten zu ihrer Umgebung rücken Golinskis Arbeiten in eine Nähe zu Andres. Ähnlich wie Andre wählt er mit Stahl auch ein für die Region charakteristisches Material, dessen Geschichte eng mit der Kohleförderung verbunden ist. „Menschengemachtes Material mit seiner eigenen Geschichtsaufzeichnung“ interessiere Andre, womit Enno Develing auch die Dimension der Zeit in seiner Arbeit anklingen lässt.[14] Während Andre aber beispielsweise Holzstücke oder Stahlnägel ohne Umformung in den Kunstraum holt, fingiert Golinski eine solche Praxis mit seiner zweiten großen Rauminstallation. In dieser tritt der Besucher zwischen dutzende Skulpturen aus deformierten Rohren, Metallteilen und Holzstücken, die wie Ausgrabungsfunde oder auch Objet Trouvés – gefundene Objekte – aus einer ehemaligen Zeche wirken. Auf Sockeln präsentiert werden diese zu modernistischen Skulpturen. Der Wegfall des Sockels in der Nachkriegskunst war für Richard Serra die bedeutendste Zäsur in der Geschichte der Skulptur.[15] Für ihn bedeutet er den Wechsel vom Erinnerungsraum des Monuments zum Verhaltensraum des Betrachters. Mit dem Einsatz von Sockeln für die „Ausgrabungsstücke“ betont Golinski daher die Inszenierung innerhalb von musealer Erinnerungskultur, beziehungsweise das hierarchische Verhältnis von Betrachter zum Kunstobjekt. Im Kontrast zu der minimalen Formsprache im vorigen Raum wirken die Skulpturen selbst fast archaisch. Hal Foster zufolge muss eine (kunst)handwerkliche, individualistische Fertigung in Zeiten der technologischen, kollektiven industriellen Produktion immer archaisch wirken.[16] Skulptur kann daher für Benjamin Buchloh in einer Industriegesellschaft nur noch Readymade oder architektonische Intervention sein.[17] Golinskis Skulpturen sind nur scheinbar Readymades, denn er fertigt sie eigens für die Ausstellung. Sie spielen mit den unterschiedlichen historischen Vorstellungen von Skulptur – von Constantin Brancusi und Marcel Duchamp bis zu Carl Andre und den Skulpturen aus „wertlosen“ Materialien von Jannis Kounellis oder auch Isa Genzken. Handelt es sich bei Ihnen doch um Fundstücke? Sind sie als Readymades oder als Artefakte zu lesen? Was hat Golinski an ihnen verändert, wie fand er sie vor? Liegt ihr Wert im Material, in der künstlerischen Form oder dem geschichtlichen Kontext, in einem möglichen Artefakt-Charakter? Die Skulpturen werfen so auch im Museumsraum selbstreflexiv Fragen nach dem Sammeln und Ausstellen in Museen und dem Kontext hinter den Museumsmauern auf. Die Institutionen im Ruhrgebiet gründen sich nicht selten auf dem bürgerlichem Wohlstand durch die der Kohleförderung, sie profitieren vom Reichtum des Bodens, der Energie im Material. Sie entscheiden mit ihrer Sammlungspraxis über kulturellen Wert, während sie sind selbst in größere ökonomische Strukturen eingebunden sind. Insofern schließt sich bildlich ein Kreislauf mit der Grube, die Golinski geöffnet hat. Seine Ausstellung weist im Ganzen konkret räumlich wie ideell über den starren Museumsraum hinaus – in eine Welt, die sich in ständiger Bewegung und Transformation in Richtung weiterer Abstraktion befindet. Achten Sie auf das Vogelgezwitscher und Risse.

[1] Aufgrund dieses selbsterklärten Programms wurde die Arbeit der Bechers als Gegenbewegung zu der subjektiven und romantisierenden Fotografie der Nachkriegszeit berühmt. Vgl. Blake Stimson: The Photographic Comportment of Bernd and Hilla Becher, in: Tate Papers No. 1, Spring 2004.
[2] Vgl. Lothar Romain: Über Bernd und Hilla Becher, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 7, München 1989, S. 10f.
[3] S. Golinskis Arbeit in der Sammlung des Folkwang Museums in Essen: o.T. (Ruhrtal – So viele Leute springen, immer…), 2007–2017 und das dazugehörige Künstlerbuch: Andreas Golinski: So viele Leute springen, immer…, Zug 2012.
[4] Auch hier lässt sich an Settings wie aus dem expressionistischem Science Fiction-Filmklassiker Metropolis denken, in dem eine prächtige Stadt für die Elite durch tausende von schuftenden Arbeitern im Untergrund gespeist wird.
[5] Die Ausstellung zeigt die Veduten in der deutlich dunkleren, vom Verleger bewusst dramatisierteren Version der zweiten Auflage von 1761, deren Verbreitung ihre dystopische Lesart stark beeinflusste.
[6] S. Stimson 2004: „Unlike their artist-cum-engineer-cum-worker predecessors, however, the Bechers’ sensibility relies on melancholy rather than innovation or allegiance to make its point: tied to the loss of an idealised past, their work gains its emotional power, its expressive force as art, from the extent to which it conveys that sense of loss to the beholder. Their photographs present us with a transformed image of the avant-garde ambitions of the 1920s and 1930s: in their view, the great industrial structures that served as monuments to the ‘gigantic schemes’ of collective life, monuments to technological, social and political modernisation, have aged and are now empty of all but memory of the ambition they once housed.“
[7] Vgl. Peter Halley: Talking Abstract, in: Art in America, December 1987, S. 171. S. Dazu auch Michel Foucaults Analyse moderner „Disziplinargesellschaften“ ausgehend von Gefängnisarchitekturen: Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt 1993. In Anlehnung an Foucault stellen Peter Halleys „Cells“ moderne Architektur im Allgemeinen dar. Halley im Interview mit Trevor Fairbrother: The Binational: German Art of the Late 80‘s, S. 98.: „The more I thought about alienation, the more I thought of telephones, televisions, electricity, things zipping in and out of isolated spaces, and so I felt I had to depict the support system that these isolated cells had. In the real world, they usually come from the underground, (…). It‘s above versus below ground, visible versus hidden, and maybe even the conscious and the subconcious.“
[8] Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit (1967, aus dem Amerikanischen von Christoph Hollender), in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel 1995, S. 334–374, hier S. 347.
[9] Vgl. Juliane Rebentisch: Tom Burrs Minimalismus, in: Kunstverein Braunschweig (Hrsg.): Tom Burr, Low Slung. AK: Braunschweig, Kunstverein Braunschweig, 2000, S. 44–51., S. 48 und Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes (aus dem Französischen von Markus Sedlaczek), München 1999. S. 105.
[10] Kristina Scepanski: Aspekte der Aneignung im Werk von Tom Burr, Magisterarbeit Universität zu Köln (unveröffentlicht), Köln 2009, S. 34.
[11] Didi-Huberman 1999, S. 105.
[12] Carl Andre im Interview mit Dodie Cust: Andre: Artist of Transportation, in: The Aspen Times, 18.7.1968.
[13] Vgl. David Bourdon; The Razed Sites of Carl Andre, in Artforum, Vol. 5, No. 2, October 1966, S. 15.
[14] Enno Develing: Skulptur als Ort, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel 1995, S. 245–254, S. 251.
[15] Vgl. Hal Foster: The Art-Architecture Complex, New York 2011, S. 143.
[16] S. zu diesem Spannungsverhältnis: Foster 2011, S. 143f.
[17] Vgl. Benjamin H.D. Buchloh: Michael Asher and the Conclusion of Sculpture, in: Chantal Pontbriand (Hrsg.):Performance, Text(e)s & Documents, Montreal 1981, S. 55.