DIE LÜCKE, DIE DER KASTEN LÄSST-TEXTE

Im Bauch des Beschleunigungsmonsters / Benedikt Boucsein

In der Vergangenheit bin ich wohl schon hunderte Male über die Mintarder Brücke gefahren, ohne sie jemals wirklich zu bemerken. Da war nur plötzlich die Weite des Ruhrtals, über das ich in einem leicht geschwungenen Bogen hinwegschwebte, als wäre der Autobahn der Boden weggenommen worden und als würde sie nun als Asphaltband in der Luft weitergeführt. Von der Brücke aus bietet sich dem Autofahrer ein eindrucksvoller Blick in die Ferne, oft wolkenverhangen, manchmal mit großartigen Lichtstimmungen, immer aber nur für einen kurzen Moment. Die Mintarder Brücke ist 1.830 Meter lang, und wenn man 120 Stundenkilometer fährt, verbringt man eine knappe Minute auf der Brücke, in der man auf den Verkehr achten muss, Radio hört und sich vielleicht mit einem Beifahrer unterhält. Zudem beeinträchtigt ein hoher Gitterzaun die Sicht auf die Umgebung und lenkt den Blick wieder auf die Fahrbahn. Die eigentliche Brücke mit ihren massiven Pfeilern tritt kaum in Erscheinung. Vielen wird es daher wie mir gegangen sein: Die Ruhrtalbrücke war mir als wiederkehrendes Erlebnis präsent, blieb aber unsichtbar, weil ich sie nie wirklich zu Gesicht bekam und nicht auf ihr stehen bleiben konnte. Sie ist ein graues Stück Infrastruktur, ein unsichtbarer Teil unseres Alltags.

 

WEITERLESEN

Bemerkt wird sie nur dann, wenn sie die freie Fahrt behindert. So auch diesen Sommer: Die Ruhrtalbrücke muss repariert werden und ist daher in Richtung Essen gesperrt, denn während sie 1966 auf durchschnittlich 20.000 Fahrzeuge pro Tag ausgelegt wurde, muss sie nun viermal so viele Autos tragen. Auch die von den Ingenieuren ursprünglich eingerechneten großzügigen Reserven sind inzwischen aufgebraucht. In den lokalen Zeitungen finden sich immer wieder Artikel zur Sperrung der Brücke, mit Berechnungen des entstandenen Millionenschadens, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, und begleitet von empörten Kommentaren der Leser. Bei deren Lektüre bekommt man das Gefühl, dass die Sperrung nicht nur ein lästiges Hindernis, sondern sogar eine Bedrohung ist. So schreibt ein Online-Kommentator, dass man sich nicht wundern müsse, wenn wir durch den schleppenden Unterhalt unserer Infrastruktur „von den Chinesen überholt“ werden würden. Für diesen Leser scheint die Brücke ein Menetekel der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit des Westens zu sein. Als Architektur aber wird sie nicht thematisiert, sondern nur als dysfunktionaler Teil der Autobahn 52 von Düsseldorf nach Essen.

Wäre ich nicht auf die Arbeit von Andreas Golinski gestoßen, hätte ich mich wohl auch einfach über die Sperrung geärgert, ohne weiter nachzuforschen. Mir wären nicht die vielschichtigen Bedeutungen des Bauwerks bewusst geworden, die wichtige Rolle, die es in Essens Entwicklung gespielt hat, und die Implikationen, die eine nähere Beschäftigung mit ihm mit sich bringt. So aber begann ich die Brücke in einem ganz anderen Licht zu betrachten, wohl auch deshalb, weil die Autobahn ein Symbol unserer gemeinsamen Herkunftsregion ist, die wie kaum eine andere von der Fortbewegung mit dem Auto abhängig ist. Die Autobahn steht für mich für lange Fahrten in den Urlaub und kurze Fahrten zu benachbarten Orten, Autobahnbrücken, zu denen wir Ausflüge unternahmen, die Mobilität meines Vaters, der jeden Morgen die Staunachrichten abwartete, bevor er auf und in dem labyrinthischen Netz mit dem rätselhaften Nummernsystem verschwand. An die Autobahn knüpft sich eine ganze Welt von Erinnerungen, Interessen und – oft uneingestandenen und unbewussten – Idealen.

Andreas Golinskis Arbeit beschreibt die Autobahnbrücke aber nicht idealisierend, sondern beschäftigt sich mit ihrer Unter- und Schattenseite. Denn der grauen Infrastruktur, die von Zehntausenden tagtäglich benutzt wird, wohnt auch das Grauen inne. Die gleichen Elemente, die auf der Oberseite ungebremste Mobilität ermöglichen, wurden für die brutale Bedrohung eines Lebens und beinahe die Auslöschung desselben missbraucht. Das 1994 im Hohlkasten der Brücke eingesperrte Mädchen wurde vom Brückenmonstrum verschlungen und nur durch Glück wieder ausgespuckt. Golinskis Arbeit führt uns damit vor Augen, dass es komplementär zur konstruktiv perfekten Form der Brücke und zur Schnelligkeit auf der Oberfläche auch eine Schattenwelt gibt. Gerade durch seine faktische, Sentimentalität vermeidende Darstellung erschüttert er den Betrachter tief und ruft in ihm Fragen hervor, die noch lange nach der Auseinandersetzung mit der Arbeit herumgeistern und mit der Zeit immer fundamentaler werden.

Seine Arbeit vermag dies auch, weil die Mintarder Brücke eine hochsymbolische Bedeutung hat. Verschiedentlich wurde schon darauf hingewiesen, dass sie für den Fortschrittsglauben des Ruhrgebiets steht, für eine Zeit, in der dieser seinen Zenit erreichte, sich aber auch seinem Ende zuneigte. In Hinsicht darauf, dass der einzige Zweck dieser Brücke darin besteht, uns schneller als zuvor von A nach B zu bringen, steht sie in einem erweiterten Sinne aber auch für die Beschleunigung, die Mythos und Motor der Moderne ist: Wer seine Geschwindigkeit nicht konstant erhöht, um im kapitalistischen Konkurrenzkampf zu bestehen, gerät ins Hintertreffen. Dieses Moment zieht sich als Konstante durch unsere heutige Gesellschaft, die Hartmut Rosa in seinem 2005 erschienenen Buch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne beschreibt: Auf den Autobahnen erhöht sich die durchschnittliche Geschwindigkeit, das Zugnetz wird dichter und schneller, Produktzyklen werden zunehmend kürzer, die schriftliche Kommunikation läuft durch die elektronischen Medien in Echtzeit ab, Themen und Moden zirkulieren in immer höherer Frequenz, und der wachsende Flugverkehr beschleunigt sowohl den internationalen Personenverkehr als auch den Datenaustausch. Um diese Beschleunigung in ihrer technischen Dimension zu ermöglichen, bringt die moderne Gesellschaft Beschleunigungsmaschinen hervor, die unsere Städte und Landschaften prägen. Darunter kann man so unterschiedliche Objekte wie Flughäfen, Schnellzüge, das Internet und Logistikzentren zählen. Die Mintarder Ruhrtalbrücke gehört auch dazu.

Liest man die Brücke als eine solche Beschleunigungsmaschine, dann liefert Andreas Golinskis Arbeit gerade deswegen ein präzises Portrait von ihr, weil er von Gewalt, Kontrolle und Dunkelheit erzählt. Er beschreibt die Erbauung und die Konstruktionsmethode des Gefängnisses, zu dem die Brücke wurde, nähert sich diesem Gefängnis fotografisch und macht es für uns über die sinnliche Erfahrung des eigentlichen Stahlkastens mitsamt dem Dröhnen der Autos erlebbar. So wie es Michel Foucaults Ziel mit dem 1977 erschienenen Buch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses war, mittels der Geschichte des Gefängnisses – also des von der Gesellschaft ausgeschlossenen Ortes – eine kritische Geschichte der Gegenwart zu schreiben, gelingt es Golinski, die Beschleunigungsgesellschaft über seine spezifische Beschreibung der Brücke infrage zu stellen. Er erreicht dies gerade dadurch, dass er sich niemals auf die Oberseite begibt, dorthin, wo die Autos fahren. Anstatt nach dem architektonisch Spektakulären zu suchen, zeigt er, dass gerade im Unauffälligen, im Wahrnehmen des grauen Hintergrunds, Erkenntnisse über die Gegenwart gewonnen werden können.

Dies verdeutlichen auch die Zeitungsausschnitte, die er der Dokumentation der Brücke beifügt. Denn ab und zu bewegen sich Menschen auch zu Fuß auf der Brücke. Bevor der Zaun als vermeintlich schützende Barriere errichtet wurde, stürzten sich Etliche vom Brückenrand in die Tiefe. Jetzt steigen sie aus ihrem Fahrzeug und springen von dessen Dach aus. Andreas Golinski thematisiert ihre Schicksale über Zeitungsausschnitte und Gespräche mit jenen, die unter der Brücke wohnen. So fordert er uns dazu heraus, über die Gründe nachdenken, welche diese Leute in den Suizid treiben, und darüber, dass sich nur denjenigen, die sich für diesen ultimativen Ausstieg aus dem Leben entschieden haben, die spektakuläre Aussicht bietet. Denn wer den alltäglichen Wahnsinn mitmacht und ordnungsgemäß mit dem Auto auf der Brücke fährt, erahnt das Panorama nur. Er muss sich auf den Verkehr konzentrieren und riskierte wiederum sein Leben, ließe er sich zu sehr ablenken.

Der Moment, in dem wir abbremsen müssen – oder aber an die Wand fahren – wird früher oder später trotzdem kommen. Die Rechnung ist einfach: So wie sich die Brücke nicht von beliebig vielen Autos befahren lässt, kann auch die Beschleunigung nicht beliebig fortgesetzt werden, sondern überholt sich schlussendlich selbst und führt den Gewinn an Geschwindigkeit ad absurdum. Am Ende der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung und der ihr inhärenten Logik steht aller Voraussicht nach die Katastrophe. Andreas Golinskis Arbeit verleiht der Ruhrtalbrücke, ihrer vordergründig ästhetischen Erscheinung und ihrem Symbolgehalt, eine eindringlich warnende, dunkle Stimme. Es bleibt uns überlassen, wie wir diese Warnung interpretieren wollen und was wir aus ihr machen.


 

In the Belly of the Acceleration Monster / Benedikt Boucsein

I probably drove over the Mintarder Bridge hundreds of times in the past without ever really noticing it. It was just, suddenly, the vastness of the Ruhr valley that I floated over. It seemed as if the concrete of the road was pulled away from under my feet, and the Autobahn, slightly bending, hovered in the air. The vista from the bridge is breathtaking: oftentimes overcast by clouds, sometimes with impressive moods of light, but just for a very brief moment. The Mintarder Bridge is 1830 meters long, and if you go 120 kilometers per hour, you only spend about a minute on the bridge—watching the traffic, listening to the radio, or talking to the person in the passenger seat. Also a tall fence hides the glorious view and directs your eyes back on the road. The bridge itself, with its massive pillars, is out of sight. Many will share this experience with me: the Mintarder Bridge has been a re-occurring experience, but always remained invisible. I could never catch a glimpse of it, and I could never pull over on the bridge to take it in. It is just a gray piece of infrastructure, an invisible part of our daily lives.

 

CONTINUE READING

The bridge only draws attention to itself when it impedes traffic. Just like this summer: the Mintarder Bridge had to be refurbished, and the direction towards Essen was blocked. In 1966 it was designed to handle an average of 20.000 cars per day, but now four times as much traffic passes over the bridge every day. Also the broad reserves that the architects initially took into account have been exhausted by now. The local newspapers often print articles about the closing of the bridge and calculations of its damage repair costs amounting to millions of euros, alongside disgruntled comments by readers. When reading these articles, one gets the impression that the closing of the bridge is not only an annoying impediment, but that it is somehow a threat: one online commentary reads that one should not be surprised when we were to be “overtaken by the Chinese” because of the neglectful maintenance of our infrastructure. For this reader the bridge equals imminent doom—the bridge is the writing on the wall of Western economic competitiveness. The Mintarder Bridge is therefore never mentioned as an architectural piece, only as a dysfunctional part of the Autobahn 52 between Dusseldorf and Essen.

Had I not stumbled upon Andreas Golinski’s work, I would have been just as annoyed about the closing of the bridge without really thinking too much about it. Its multilayered implications would have been lost to me, such as its important role in Essen’s development as a city, or many other aspects that a closer, scrutinizing look onto the bridge entails. I started looking at the bridge differently, maybe also because the Autobahn is such an important symbol for our shared home region, which is heavily dependent on the car as a means of transportation. For me the Autobahn signifies long drives towards vacation destinations, short drives to neighboring cities, little trips to bridges along the Autobahn, as well as the mobility of my father, who listened carefully to the traffic report each and every morning before venturing out into this labyrinthine network of cryptic numbers. A net of memories, interests, and—mostly unconscious and never to be confessed—ideals weaves around the Autobahn.

Andreas Golinski’s work describes the Mintarder Bridge not in an idealizing way, but addresses its dark sides, its underbelly. This gray part of infrastructure, that ten thousand people speed over every day, bears dark memories. The same elements that facilitate unhindered mobility on its surface once were abused for an atrocious crime: In 1994 a young girl was locked into one of the box girders, swallowed by this bridge monster, and was only spat out again by chance. Golinski’s work visualizes that the perfectly constructed form of the bridge and the fast pace that dominates its surface are complemented by a dark underbelly. Particularly through his practical, unsentimental presentation, Golinski unsettles the viewer deeply, and he raises questions within her that will come to haunt her more and more over time, becoming increasingly elementary as time goes by.

In addition to this, Golinski’s work achieves to raise this set of questions because the Mintarder Bridge bears such high symbolism for the region. The bridge has often been referred to as the promise of progress for the Ruhr region—in a time when this very promise hit its apogee but, simultaneously, also its limit. In regards to its basic function, namely to connect A and B quicker and more conveniently, the bridge can also, in a broader sense, be interpreted as a symbol of acceleration, bearing the mythos and motor of modernity within it: those who cannot constantly speed up and advance in order to survive in the capitalist rat-race will, eventually, fall behind. This idea is a red thread in our modern society, as Hartmut Rosa illustrates in his book Social Acceleration – The Change in Temporal Structures in Modernity, published in 2005: the average speed on highways is accelerated, the train systems grow denser and faster, production cycles become increasingly shorter, written communication takes place in real-time through electronic mediums, trends and topics in public discourse attain a higher frequency, and air traffic accelerates passenger traffic as well as data exchange. To enable these symptoms of acceleration in their technological dimensions, society produces soi-disant “acceleration machines,” like airports, express trains, the Internet, or logistic centers, among many others, that shape our cities and landscapes. The Mintarder Bridge can also be regarded as an acceleration machine.

When grasping it as such an acceleration machine, Andreas Golinski’s work draws a trenchant and precise portray of the bridge by also taking violence, control, and darkness into account. He does not only portray the bridge in itself, but he also takes the construction method of the prison that the bridge was re-appropriated for into account. He approaches this very prison photographically by turning a steel box, along with the blasting of the cars shooting by, into a sensual, corporeal experience. Comparable to Michel Foucault’s efforts to write a critical history of the present in Discipline and Punish: The Birth of the Prison, Golinski challenges the notions of the acceleration society in his sharp portrayal of the Mintarder Bridge. Nonetheless, he never dares to go to the back to its surface, where the cars torpedo by: instead of exposing its architectural extravaganza, Golinski shows that insights on our present moment can be traced in the inconspicuous, in the unobtrusive, within a gray background.

The newspaper clippings that round off Golinski’s documentation re-affirm this notion. Every now and then, people walk on the bridge. Before a fence was built, many people had plunged from the edge into its abyss. Now, they pull over, climb onto the roofs of their cars, and jump off. Andreas Golinski complements the stories of the suicide victims with newspaper articles as well as interviews with people living underneath the bridge. Golinski thus dares us to think about the reasons why these people decided to end their lives and committed suicide—and that the spectacular view from the bridge onto the Ruhr valley is only reserved for those who decided to end their lives. Those who choose to partake in the craziness of daily life, those who properly remain seated in their cars can only speculate about the panorama. They have to watch the traffic, and they would be risking their lives if they were to be distracted by the beautiful view from the bridge.

he moment when we have to brake—or when we drive headlong into the wall—will come eventually. The math is easy: the bridge cannot be passed by too many cars, and so can our acceleration not be continued at random. It will eventually overtake itself and will render the continuous speeding up ad absurdum. At the end of the current societal developments and their inherent logics will, most likely, loom a catastrophe. Andreas Golinski’s work bestows the Mintarder Bridge, with its superficial aesthetic appearance and its symbolic meaning, with a haunting, dark voice. It is left open to us in what way we interpret this warning and what we will make of it.


 

Die Lücke, die wir heute schließen / Sandra Dichtl

Das Ruhrgebiet gehört zu den meistfotografierten Regionen Deutschlands. Woher kommt diese Faszination – sind es die wuchtig prunklosen, aufrichtig spröden Architekturen der Industrieanlagen? Ist es die Konfrontation mit ästhetischen Fragmenten einer vergangenen Ära? Ist es die von Menschenhand geformte Topographie der Region oder sind es die Relikte einer längst vergangenen, aber nicht vergessenen Zeit? Die Industrialisierung und der andauernde Strukturwandel des Reviers sind vom Kameraauge verfolgt, statuiert und bis heute begleitet worden. Die sich dabei multiplizierenden Bilder hatten und haben eine stark affirmative, imagebildende Funktion und prägen die Vorstellung von der Region. Zu diesen starken Bildern gehört zweifelsohne auch jenes der Ruhrtalbrücke bei Mintard, zwischen Ruhrgebiet und Rheinland. Sie ist die längste Straßenbrücke Deutschlands aus Stahl und galt lange Zeit als ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Gefertigt wurde sie aus heimischen Materialien, denn ihr Stahl kam direkt aus Essen von der Firma Krupp. Sie war lange Zeit ein Symbol für Fortschritt und Glauben an die Technik, für Aufbruch, Mobilität und Freiheit.

 

WEITERLESEN

Der Essener Künstler Andreas Golinski ist ebenso fasziniert von diesen Zuschreibungen wie von der formalen Strenge der Brücke über dem idyllischen Ruhrtal. Diese inhaltlichen sowie äußerlichen Faktoren trieben ihn an, anhaltend und intensiv den Geschichten rund um die Mintarder Ruhrtalbrücke nachzugehen, Archivmaterial und Fotografien zu sammeln und sich mit technischen Zeichnungen der Betonkonstruktion zu beschäftigen. In seiner neuen Arbeit DIE LÜCKE, DIE DER KASTEN LÄSST mündet diese vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Bauwerk, seiner Geschichte und dem Symbolcharakter in einer begehbaren Installation mit ausgeprägter Geräuschkulisse, die den Besucher in einen Hohlraum dieser Brücke hineinversetzt.

Golinski agiert in der Nachfolge von Künstlern wie dem Fotografen Chargesheimer (Carl-Heinz Hargesheimer), der 1958 zusammen mit Heinrich Böll einen Bildband als Gegendarstellung zum aufkommenden romantisierten Bild des Ruhrgebiets veröffentlichte. Chargesheimer fokussierte die widrigen Lebensumstände, akzentuierte die engen Wohnungen, die gezeichneten Gesichter der sich Abarbeitenden direkt und unverstellt. Für Golinski wird die Mintarder Ruhrtalbrücke zum Echoraum für dunkle Kapitel der Geschichte – eben jener problematischen Vergangenheit der Krupp-Dynastie, aber auch trauriger Einzelschicksale, die mit dem Bauwerk verbunden sind. Seine Arbeit kommentiert drastisch, aber ohne unmittelbar die Stimme zu erheben.

Golinskis Objekte und Installationen sind radikal reduziert und anti-dekorativ. Sie basieren auf einem Dilemma, der Spannung zwischen dem Drang nach Erinnerung und gleichzeitigem Vergessen wie auch auf den blinden Stellen im kollektiven Gedächtnis, die den Moment zwischen Gegenwart und Vergangenheit komprimieren. Seit einigen Jahren feiert der Künstler aus Essen Erfolge in seiner zweiten Heimat Italien, ebenso in Österreich oder Israel und fand auch in Berlin und im Rheinland Beachtung. Diese Einzelausstellung ermöglicht Andreas Golinski den ersten umfangreichen künstlerischen Auftritt in seiner Heimat, dem Ruhrgebiet.

Dass diese Ausstellung stattfinden kann, ist dem Engagement des Künstlers wie auch zahlreicher Unterstützer zu verdanken. Vorrangig ist das Kulturbüro der Stadt Dortmund zu nennen, das mit seinem Beitrag ein Zeichen für das intensive Engagement der Kommune im Bereich der zeitgenössischen Kunst setzt. Ohne die Unterstützung unserer Förderer und Sponsoren wäre diese Ausstellung nicht realisierbar gewesen. Zu nennen ist hier an erster Stelle die Sparkasse Dortmund die mit ihrer großzügigen Finanzierung entscheidend zum Gelingen beigetragen hat. Die WestLB-Stiftung Zukunft NRW ermöglichte mit ihrer exklusiv für Kunstvereine ausgelobten „Publikationsförderung für Nachwuchskünstler aus NRW“ diesen Katalog. Ihnen allen gilt unser Dank.

Wir danken Andreas Golinski für die vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit. Ferner gebührt unser Dank dem gesamten Vorstand des Dortmunder Kunstvereins, insbesondere seiner Vorsitzenden Marion Edelhoff. Zudem unseren ambitionierten und zuverlässigen Mitarbeitern: der kuratorischen Assistentin Linda Schröer sowie Philipp Höning und Spiridon Kapravelos für die Gestaltung dieser Publikation.


 

The Gap We Are Closing Today / Sandra Dichtl

The Ruhr is among the most photographed regions in Germany. But where does this fascination stem from? Is it the massive, pompless, recalcitrant architecture of its industrial plants? Is it the confrontation with the aesthetic fragments of an era past? Is it the man-made topography of the region or is it, rather, its relicts from a time long gone but not yet forgotten? Up until today, the industrialization as well as the ongoing structural change of the Revier have been thoroughly followed and excessively captured by the lenses of cameras. The images that keep on multiplying had and continue to have an affirmative, image-creating function, and they come to shape our perception on the region immensely. Among its most powerful images belongs, without a doubt, the Mintarder Bridge, stretching between the Rhineland and the Ruhr region. It is the longest steel bridge in Germany and has been regarded as a masterpiece of engineering for a long time—understood as a symbol for progress and the faith in technology, but also for movement, mobility, and freedom. Its steel came straight from the factories in Essen, manufactured by Krupp; the bridge can thus be regarded a distinct product of the Ruhr region.

 

CONTINUE READING

Andreas Golinski, artist from Essen, is fascinated by these characteristics attributed to the bridge, alongside its formal austerity which embeds itself into the idyllic Ruhr valley. Both these interior and exterior facets have inspired him to continuously and thoroughly investigate the stories around and about the Mintarder Bridge, to collect archival material and photographs, and to engage with technical drawings of the concrete construction of the bridge. These efforts come together in his latest work, which is a walk-in installation complemented by a distinct soundscape called DIE LÜCKE, DIE DER KASTEN LÄSST—the gap that the box (girder) leaves—which enables the viewer to empathize with the experience of being inside one of the box girders of the bridge. The installation hence offers a multilayered examination of the bridge, its history, and its symbolisms.

Golinski follows in the footsteps of artists like the photographer Chargesheimer (Carl-Heinz Hargesheimer) who, together with Heinrich Böll, published the photo book Im Ruhrgebiet (“In the Ruhr Valley”) in 1958 to counter an emerging romanticizing image of the Ruhr region. Chargesheimer focused on the low and adverse living conditions, emphasizing the small apartments and the scarred faces of the blue-collar workers, which he chose to portray in an undistorted and direct manner. For Golinski the Mintarder Bridge turns out to be an echo chamber for a dark chapter of the Ruhr region’s history –  including the problematic past of the Krupp dynasty but also the sad fate of an individual that is interwoven with the history of the Mintarder Bridge. His work comments drastically, without raising its voice.

Golinskis objects and installations are radically reduced, withdrawn, and anti-decorative. They explore the tension between the urge to remember and the simultaneous wish to forget, but they also examine the blind spots within the collective memory that outline the moments lingering between past and present—Golinski grounds his works on this very dilemma. Within the last couple of years, Golinski has received wide acclaim in his adopted home Italy, as well as in Austria or Israel; he attracted much interest in Berlin and the Rhineland. This solo exhibition is the first of Golinski’s work in his home, the Ruhr region.

The artist’s commitment as well as the dedication of many supporters made this exhibition possible. Above all, the Kulturbüro—the department of leisure and culture in Dortmund— sets a stark example for a thorough engagement with contemporary art. Without the support of our sponsors and patrons this exhibition would have not been possible. First off, Sparkasse Dortmund and its generous funding contributed immensely to the success of this exhibition. With its “Publikationsförderung für Nachwuchskünstler aus NRW”—publication funding awarded to emerging artists from North Rhine-Westphalia—WestLB-Stiftung Zukunft NRW made this catalogue possible. Our special thanks go out to all of them.

We would like to thank Andreas Golinski for his trusting and cordial co-operation. Special thanks go out to the entire board of the Dortmunder Kunstverein, especially to its chair, Marion Edelhoff. Furthermore, we would like to thank the ambitious and reliable staff members: the curating assistant Linda Schröer as well as Phillip Höning and Spiridon Kapravelos for the layout and design of this publication.